Aufruhr der Entbehrlichen
letzte ist ein Artikel des Soziologen Wolfgang Sofski in der WELT zu lesen, in dem es um die Montagsdemonstranten, das Ende des Wohlfahrtsstaates und eine Analyse der wirtschaftlichen Situation geht. Ich finde ihn sehr lesenswert.
Hier der Text und unten der Link:
Aufruhr der Entbehrlichen
Nicht das Volk demonstriert, sondern jenes Drittel, das bei der Modernisierung des globalen Kapitalismus verlieren wird / Von Wolfgang Sofsky
"Da sie nichts vorzuweisen haben als ihre Enttäuschung, berufen sie sich auf einen politischen Mythos, auf die Volksmärsche gegen den DDR-Polizeistaat"
Foto: dpa
Zehntausende demonstrieren jeden Montag gegen die Kürzung der staatlichen Fürsorge. Es sind nicht die Habenichtse, die auf die Straße gehen, nicht die Obdachlosen und Hungerleider, die ohnehin nichts mehr haben. Die Mehrzahl der Protestgänger sind Menschen, die den Absturz befürchten, Erwerbslose ohne Aussicht auf Beschäftigung. Keinesfalls wollen sie landen, wo die Armen und Überflüssigen längst sind. Sie haben noch etwas zu verlieren: das knappe monatliche Auskommen - ohne Gegenleistung, die Ersparnisse, Status und Stolz. Weil der Abstand nach unten klein ist, äußert sich der Protest um so vernehmlicher. Zukunftsangst vermischt sich mit Wut und Empörung. Viele fühlen sich ungerecht behandelt und um den Lohn ihres Lebens gebracht. Andere sehen sich um die Hoffnungen betrogen, die ihnen über Jahre vorgegaukelt wurden. Nicht wenige glauben noch an einen unveräußerlichen Rechtsanspruch auf Solidarität - von Staats wegen.
Die politische Klasse ist alarmiert, denn sie sieht ihre Gefolgschaft dahinschwinden. Sie fürchtet um das einvernehmliche Schweigen, auf dem ihre Macht beruht. Daher diffamiert sie den Protest als Versammlung der Einfältigen, die weiterer, "kommunikativer" Belehrung bedürften. Radikale Dunkelmänner und Trittbrettfahrer sind angeblich am Werk. Hinter dem lautstarken Widerspruch wittert man sogleich eine Gefahr für die Demokratie. Einmal mehr verwechselt man die Opposition gegen die eigene Parteipolitik mit einer Kritik am Staat. Nervöse Amtsträger fordern gar eine Verschiebung oder Streichung der unpopulären Maßnahmen. Aber keiner wagt offen zu sagen, was der Fall ist: dass der deutsche Wohlfahrtsstaat vor dem Ende steht und künftig jeder selbst sehen muss, wo er bleibt.
Der Protest spricht vom Ende einer Illusion. Über Jahrzehnte glaubte man, der Staat könne Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Im Westen entsprach der Konsensdemokratie die Ideologie der "Sozialen Marktwirtschaft", im Osten übernahm der Polizeisozialismus die Werktätigen sogleich in den öffentlichen Dienst. Jedem Deutschen verhieß man wachsenden Wohlstand bei immer weniger Arbeit. Und nun ist man bass erstaunt, dass nach dem Fall des nationalen Schutzwalls die globale Konkurrenz auf die Wohlstandsinseln zurückgekehrt ist. Deutschland und Europa sind nicht mehr der Ausgangspunkt ökonomischer Expansion, sondern ein Kampffeld unter anderen. Der Interventionsstaat erweist sich als machtlos. Und die Bewegungsgesetze des Kapitals kennen weder Gerechtigkeit noch Brüderlichkeit, sondern nur den Zwang der Marktkonkurrenz.
Man erinnere sich: Der Motor der kapitalistischen Produktionsweise ist die Rivalität. Unaufhörlich revolutioniert sie die Wirtschaft von innen heraus. Die kapitalistische Entwicklung ist ein Prozess der schöpferischen Zerstörung. Wachstum kostet Verluste, Fortschritt ist Aufruhr. Alle Geschäftsbedingungen stehen zur Disposition. Jede Erneuerung bedeutet das Ende der alten Güter, des alten Wissens und des alten Personals. Wer in dieser Konkurrenz zu spät kommt, den ereilt der ökonomische Tod.
Wirtschaft ist ein riskantes Geschäft. Dies gilt für freie Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte gleichermaßen. Der Preis für die Arbeitskraft richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Steigt das Angebot, fallen die Löhne, steigt die Nachfrage, steigt auch der Lohn. Dieser Mechanismus ist durch das Kartell der Tarifpartner vielfach außer Kraft gesetzt. Gewerkschaften agieren als Monopolverband beschäftigter Fachkräfte gegen die Kapitaleigner. Erwerbslose haben von ihnen wenig zu erwarten. Trotz deftiger Erklärungen beteiligt sich die Gewerkschaftsspitze an den Protesten nur halbherzig. Sie ist ihren zahlenden Mitgliedern verpflichtet, nicht den Arbeitslosen, die sich den Monatsbeitrag längst nicht mehr leisten können. Für ihre Mitglieder erzielt die Gewerkschaft höhere Löhne, Beschäftigungsgarantien oder Vorkehrungen des Arbeitsschutzes. Gerechte Löhne haben sie noch nie erstritten.
Auf dem Arbeitsmarkt erhält man nicht, was einem zusteht, sondern was der Vertragspartner zahlen will. Von Verdienst nimmt der Markt keine Kenntnis. Harte Arbeit, Zuverlässigkeit, Initiative, Geschäftssinn, die Prostitution aller Talente, all dies wird manchmal vergolten und manchmal nicht. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Markt abgeschafft gehöre, sondern dass niemand wegen seiner Herkunft oder seiner fehlenden Marktmacht von dessen Chancen abgeschnitten werden darf. Nicht Gerechtigkeit, sondern Gelegenheit ist das Prinzip freier Märkte.
Der Protest ist auch ein Ergebnis des Lohnsystems. Denn Lohnarbeit fördert die Apathie. Dem Lohnabhängigen fehlt die Chance, über sein eigenes Leben zu bestimmen und sich durch höhere Leistung einen Extragewinn zu verschaffen. Risiko lohnt sich für ihn nicht. Er gewinnt nichts, wenn sein Unternehmen floriert. Ihm bleiben nur die Leiden des Misserfolgs. Weder die Verantwortung für den Gewinn noch der Stolz auf die vollbrachte Leistung gehören ihm. So strebt er vor allem nach Sicherheit - und nach Verringerung seines Einsatzes. Wem die Erfrischungen des freiwilligen Risikos vorenthalten bleiben, setzt nicht auf Arbeit, Disziplin und Kreativität, sondern auf Freizeit und Konsum, und wenn ihm hierzu das Geld fehlt, dann zeichnet er einen Kredit oder hofft auf die Alimente des Staates. Der heutige Pumpkapitalismus wird durch das Lohnsystem nur begünstigt. Erst kommen die Schulden, dann der Genuss, schließlich die Arbeit.
Die Macht der aktuellen Demonstrationen ist begrenzt. Die Protestgänger können nicht streiken und die Arbeit verweigern, denn sie haben keine. Sie können keine Betriebe besetzen, denn die Fabriken sind längst geschlossen. Nur Parteizentralen, Rathäuser oder Arbeitsämter könnten sie demolieren. Der Schaden wäre überschaubar.
Da sie nichts vorzuweisen haben als ihre Enttäuschung, berufen sie sich auf einen politischen Mythos, auf die Volksmärsche gegen den DDR-Polizeistaat. Auch damals ging es, neben Freiheit und Volkseinheit, um Teilhabe am Wohlstand. Aber der heutige Protest repräsentiert nicht das Volk als ganzes. Trotz der Sympathien, die der Umzug weithin genießt, es ist eine Demonstration der Ausgeschlossenen. Sie stehen für jenes Drittel der deutschen Bevölkerung, das bei der Modernisierung des globalen Kapitalismus verlieren wird.
Proteste gewinnen immer dann an Triebkraft, wenn sich die Obrigkeit taub stellt. Verunglimpfung oder gönnerhaftes Verständnis heizen den Zorn an. Eine Korrektur oder gar Rücknahme der Maßnahmen ermunterte zu weiterem Protest. Sich stur zu stellen und die Tatsachen zu beschönigen, schürt die Entrüstung. Was immer die Machtelite tut, der Zug des Protestes wird anwachsen.
An der Masse lieben Menschen die Dichte, die sie mit den anderen vereint. Auf der Straße erleben sie hautnah die Gleichheit, die sie so sehr entbehren; nur im Verein mit Tausenden gewinnen sie die Illusion, ihre Einsamkeit überwunden zu haben. Dieses Erlebnis verlangt nach Wiederholung. Spätestens in einigen Wochen wird die rituelle Protestbewegung ihren Zenit überschreiten. An diesem Umkehrpunkt wird sich der kollektive Unmut entweder in einem Gewaltausbruch entladen, oder die Menge wird sich zerstreuen. Dass bei den nächsten Wahlen der Kreislauf der Regierungen beschleunigt wird, ist gewiss. Für die Entwicklung des Kapitalismus indes ist der kurze Aufruhr der Entbehrlichen nur eine Episode.
Wolfgang Sofsky ist Soziologe und Publizist.
Artikel erschienen am Mi, 25. August 2004
Aufruhr der Entbehrlichen
Gruss
miri
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