shena_12375982Wete
Ich halte die Rede vom "Werteverlust" für maßlos übertrieben, ebenso wie das Gerede von der "Konsum- und Fungesellschaft".
Es hat vielleicht ein Wertewandel stattgefunden, aber ich sehe keinen wirklichen Verlust. Waren in obrigkeitsstaatlichen und stärker kirchengeprägten Zeiten Tugenden wie Gehorsam, Demut und Bescheidenheit gefragt, so haben wir alle gelernt, dass wir für unsere Rechte kämpfen können und dass Bescheidenheit geschäftsschädigend ist
Fleiß und Arbeitsamkeit sehe ich immer noch eine Menge, ebenso Mitgefühl und Interesse für soziale Fragen.
Ich denke, dass das Thema viel mehr mit einer großen Verunsicherung, mit dem Gefühl, dass alles im Wandel ist.
Dieser Wandel bezieht sich sowohl auf das Berufs- wie das Privatleben: keiner kann mehr sicher sein, lebenslang Arbeit zu haben, schon gar nicht in einer einzigen Firma, die Scheidungsrate ist hoch, Familien fallen auseinander und finden sich zu neuen Patchworkgemeinschaften zusammen.
Viele Menschen finden das beunruhigend und sehnen sich in Zeiten zurück, in denen offenbar alles noch so sicher und geregelt war, dabei stimmt das gar nicht: unsere derzeitigen Verhältnisse sind nur dann ungewöhnlich, wenn wir sie mit den vorhergehenden Jahrzehnten nach dem Krieg vergleichen. Damals wurde der Sozialstaat aufgebaut, es herrschte Arbeitskräftemangel, die meisten Leute heirateten und die Scheidungsrate war gering.
Noch früher kämpften die meisten Menschen täglich aufs Neue um ihren Lebensunterhalt, sowohl in der Landwirtschaft wie als Fabriksarbeiter ohne soziale Sicherung. Viele Familien waren mindestens so "patchwork" wie heute: Frauen starben jung im Kindbett, Männer verunglückten bei der Waldarbeit oder starben im Krieg, die übriggebliebenen Partner heirateten wieder und bekamen weitere Kinder. In manchen Familien gab es Kinder, die mit keinem Elternteil mehr verwandt waren. Außerdem lebten in jeder Familie eine Anzahl von ledigen Geschwistern.
All das wurde zusammengehalten von einem strengen moralischen Regime vor allem religiöser Art - mit Unterstützung des Staates.
Es war erst der zunehmende Wohlstand und vor allem auch die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen, die diese Lebensform ablöste. Denn die Werte gaben nicht nur Sicherheit, sondern waren auch ungeheuer repressiv - das vergessen die meisten, die heute über den Werteverfall jammern.
Es gab bis in die Achtziger hinein Bücher von Leuten, die über ihre Kindheit in den Wertesystemen des frühen 20Jh. berichteten - da ist oft von einer Repression und Gewalt in den Familien die Rede, von der wir keine Vorstellung mehr haben. Eines der letzten und eindrücklichsten Bücher dieses Genres war Anna Wimscheiders "Herbstmilch".
Es sind ja auch nicht alle Menschen, die über den Werteverfall jammern; sehr viele sehen auch die Chancen einer größeren Offenheit der Lebensentwürfe und fühlen sich darin wohl.
Grundsätzlich denke ich, dass wir mit dem mit dem "verlorenen Gefühl" leben müssen. Es ist der Preis der Freiheit.
lalique