zauderer22> Ich gehe mal davon aus, dass Du das Exemplarische zur Darstellung eines krassen Gegensatzes durchaus gesehen hast, aber da Du ja gerne alle möglichen Details sezierst, auch mal gerne übersiehst. Da ist die Gefahr groß, dass die für das menschliche Verstehen so notwendige Darstellung von Idealtypischem an den Rand gedrängt wird (weil alles Idealtypische eben niemals im Detail "real" sein kann). Es löst sich alles nur noch in unendliche Details auf.
Beim Sezieren gibt es noch eine andere Gefahr: Man sieht die einzelnen Teile. Aber da man zerlegt hat, sieht man ihre Summe nicht. Ich denke grade an die Ideen des Kernphysikers Hans Peter Dürr.
Mir geht es nicht darum, das Entwickeln von Vorstellungen von Idealtypen zu kritisieren. Vorstellungen von Idealtypen sind Voraussetzung für Begriffsbildung. Begriffsbildung und damit die Möglichkeit, Vorstellungen von Gegenständen der Erkenntnis zu bewirken/hervorzurufen, ist Voraussetzung für menschliche Kommunikation. Eine Vorgehensweise beim Erklären von Sachverhalten und Zusammenhängen besteht darin, von einem Idealtypus auszugehen, der sich mithilfe weniger Worte gut vorstellen lässt, und dann die Abweichungen von diesem Ausgangspunkt (die Ausnahmen von der Regel/die Besonderheiten/die Feinheiten/die Sonderfälle/die individuellen Ausprägungen...) abzuhandeln.
Mir ging es darum, dass in unseren Medien zB im Bereich der Sexualiät Vorstellungen von Idealtsypen hervorgerufen werden, verbunden mit dem Zweck der Suggestion, diese Vorstellungen gäben den Mainstream wieder. Diese Suggestion hat mitunter fatale Auswirkungen auf Menschen, die aufgrund dieser nicht den Tatsachen entsprechenden suggerierten Vorstellungen vom Mainstream in den Glauben verfallen, mit dem Mainstream nicht mehr zu harmonieren.
> Mir ging es - jetzt ohne Beispiel darum -, dass unsere Vorstellungen von Sexualität immer nur eine gesellschaftliche Konstruktion sind. Dass es da irgendein biologisches Fundament geben mag, meinetwegen. Nur davon verstehe ich am wenigsten.
Die Vorstellungen von Sexualität werden mitgeprägt von der Art und Weise, wie die Gesellschaft, in die man eingebettet ist, Sexualität handhabt. Ich bezweifle aber, dass die in den Medien bezüglich Sexualität suggerierten Vorstellungen vom gesellschaftlichem Usus und beim Mainstream angeblich vorherrschenden Einstellungen und Sichtweisen und Gepflogenheiten den Tatsachen entsprechen. Schon deshalb, weil ich statt einer einheitlichen Gesellschaft eine Mischung aus vielen Parallelgesellschaften sehe, die in vielem keinen gemeinsamen Nenner haben, der tatsächlich einen echten "Mainstream" darstellen könnte.
> Was weibliche Sexualität ist, verstehe ich noch weniger (manchmal glaube ich nicht einmal, dass es sie gibt).
> Korrektur des letzten Satzes: "Manchmal glaube ich nicht einmal, dass es sie in einer für einen Mann überhaupt nur annähernd verständlichen Weise gibt" (bzw. dass sie etwas so völlig anderes ist als das, was ich mir als Mann überhaupt vorstellen kann, während erstaunlicherweise Frauen zu verstehen behaupten, was Männer so empfinden).
Inwieweit kann einer überhaupt wissen was ein anderer empfindet? Ich weiss, es haben sich berufenere Geister als ich Gedanken dazu gemacht. Und dabei auch viel über Begriffe wie "Empathie" gestritten. In Dschuang Dsis Wahrem Buch vom Südlichen Blütenland gibt es zB einen Text "Die Freude der Fische" mit der Quintessenz, dass Dschuang Dsi die Freude der Fische aus seiner eigenen Freude beim Wandern am Fluss erkennt.
Gibt es überhaupt "Weibliche Sexualität" zB als etwas von "Männlicher Sexualität" klar Abgrenzbares? Wir Frauen -- man könnte jetzt darüber streiten, wer alles zu "uns Frauen" dazugehört -- sind uns ja nicht mal untereinander darüber einig, wie der Begriff "Weiblichkeit" klarzulegen ist. Wie soll man von jemandem ernsthaft verlangen, "weibliche Sexualität" klarzulegen und/oder zu verstehen? Unter welchen Voraussetzungen wäre eine diesbezügliche Klarlegung für "Verständnis" hinreichend? Wäre dazu zB das Vermitteln "objektiver Wahrheiten" notwendig? Welche Formen von Gewissheit über die Richtigkeit wären mit dem Wissen über den Begriff "weibliche Sexualität" zu verknüpfen? Apodiktische Gewissheit? Glaubensgewissheit? Andere Formen der Gewissheit? Ich habe "Klarlegen" geschrieben, denn man müsste sich auch erst überlegen, um was für eine Art von Begriff es sich handelt und welche Klarlegungsmethoden (zB Explizieren, Exponieren, Deklarieren, Definieren) und damit einhergehend welche Formen der Gewissheit über das Verständnis überhaupt möglich sind und welche Merkmale (zB Präzision oder Wahrheit oder Richtigkeit oder Gültigkeit) die Klarlegungen überhaupt aufweisen können.
Meiner Auffassung nach ist zB "Weibliche Sexualität" wegen des darin enthaltenen "weiblich" allenfalls explizierbar, was wiederum keine Garantie für die Möglichkeit apodiktischer Gewissheit darstellt. Wenn das stimmt, dann könnte es genau diesem Umstand des "Allenfalls-Explizierbar-Seins" geschuldet sein, dass viele Leute (irrtümlich) in dem Gefühl leben, diesen Begriff nicht hinreichend verstanden zu haben. Frei nach Loriots Frühstücks-Ei-Sketch: Mit deren Gefühl stimmt was nicht. Weil sie in ihren Annahmen darüber, an welche Form von Gewissheit über die Richtigkeit ein richtiges Verständnis für "Weibliche Sexualität" --Gibts da überhaupt ein "objektiv richtiges" Verständnis?-- geknüpft sein müsse, von nicht erfüllbaren Voraussetzungen ausgehen.
Manche quälen sich mit dem Gefühl herum, etwas nicht zu verstehen. Eine Teilmenge dieser sich Quälenden versucht dem abzuhelfen, indem sie sich (und andere) damit quält, die beim Versuch, Verständnis zu erlangen, verwendeten Begriffe zu sezieren. Das macht zwar Spaß, läuft aber am Ende doch immer auf Sokrates hinaus, der da sagte "Ich weiss, dass ich nichts weiss".
Es gibt Studien, die belegen, dass man unabhängig vom Geschlecht zB über Hormone regulieren kann, inwieweit bei einem Menschen die Amygdala die Entscheidungsbildung beeinflusst, also regulieren kann, ob dieser Mensch Entscheidungen eher rational oder eher emotional trifft. Aspekte, die häufig dem Männlichen bzw dem Weiblichen zugeschrieben werden.
Wenn dies zB an Hormonspiegel geknüpft ist, könnte vielleicht schon deshalb nicht klar abgegrenzt werden, weil durch Regulation von Hormonpegeln "fliessende Übergänge" bewirkt werden können.
Es gibt mindestens so viele Arten zu leben, wie es Lebewesen gibt. Nicht alle kann man verstehen. Ich halte es im Grunde genommen für unnötig, sich damit zu plagen, abstrakte "idealtypische" Konstrukte wie "weibliche Sexualität", über deren Verständnis keine Einigkeit vorliegt, in allen Aspekten verstehen zu wollen. Verständnis für die Sexualität derjenigen, mit denen man Sexualität lebt, ist eine gute Sache. Auch der Versuch, ausgehend von idealtypischen Konstrukten wie "Weibliche Sexualität" oder "Männliche Sexualität" Besonderheiten in der individuellen Ausprägung oder Abweichungen oder dergleichen zu erfassen, kann da weiterhelfen. Aber ich glaube nicht, dass die Gewissheit über die Richtigkeit des Verständnisses für diese Idealtypen eine apodiktische sein kann.