Ich finde die Frage und die Diskussion darüber interessant.
Vermutlich auch, weil mir die Dating-Kultur, und alles was uns dazu im gesellschaftlichen Kontext aktuell vorgeführt wird, irgendwie abschreckt. Ich gehöre in der Mitte des Lebens zu jenen Menschen, die ihre Partner noch im real-life kennen und lieben gelernt haben. Und anders würde es für mich bis heute nicht passen, obwohl ich durchaus ein sehr digitaler Mensch geworden bin und auch nie so richtig an die romantische, die wahre, die grosse Liebe geglaubt habe. Meine Rationalität würde also zu einem Katalog, zu einem möglichst frühen Selektionsverfahren passen. Und da ich notorisch zu wenig Zeit habe, auch für mich, würde ich mich von aussen wohl selber als idealer Probande für Speed-Dating betrachten.
Aber das sind natürlich alles Fehlanzeigen, weil es dann eben oftmals ganz anders kommt als man will oder für richtig sieht. Und ich meine, zum Glück ist das so.
Meine Kennenlernzeiten haben sich nicht selten über mehrere Monate, wenn nicht Jahre erstreckt. Ich stiess also auf Menschen, die mich von Beginn weg interessierten, aus welchen Gründen auch immer ein direkteres und näheres Kennenlernen aber nicht möglich war. Dennoch sah man sich immer mal wieder, erkannte Gemeinsamkeiten, unternahm was zusammen. Es entstand Intimität - und dann war da plötzlich der erste Kuss, der erste Sex, es rumpelte in beiden Häusern von der Dachkammer bis in den Keller, und augenreibend sah man, dass da nichts mehr war wie vorher.
Wieso ich damit gut gefahren bin: Im Moment wo Sex und Liebe dazukommen, kennt man sich bereits auf einer Ebene, wo man sich sicher sein kann, dass auch gemeinsame Interssen und Werte das Zusammenleben nicht über Masse strapazieren. Bildlich gesprochen ist da nicht am Anfang ein Feuer welches in sich zusammenfällt, sondern eine Glut, die langsam zum Feuer erwacht. In beiden Fällen gilt es natürlich Holz nachzulegen, so man sich weiterhin an der Wärme und dem Licht erfreuen will. Aber das ist, das wäre natürlich noch ein ganz anderes Thema hier.
Dass man sich in den Bedürfnissen nach Nähe und Distanz entsprechen sollte, halte ich für zentral und von Beginn weg wichtig. Die Grosszügigkeit am Anfang eines Begehrens, die uns auch über ganz offensichtlichen Mängel des anderen hinwegschauen lässt, rächt sich meist, sobald etwas Ruhe einkehrt, und man selber nicht allzu einfach und simpel durchs Leben hinkt. Denn da kommen sie daher, die Wünsche, die Projektionen, die eigenen Prägungen, der eigene Stallgeruch. Und zwar unbarmherzig.
Für mich selber gestalteten sich eher langsame Kennenlernenzeiten und alternative Wege in eine Paarbeziehung aber keineswegs "einfacher" oder "erfolgreicher". Denn es ist und war nie Teil einer Strategie, sondern die logische Konsequenz eines Lebens, wie ich es führe und gerne weiterhin für mich und einen engsten Familien- und Freundeskreis pflege.
Als selbständiger Unternehmer und überzeugter Freigeist unterscheidet sich alleine mein Alltag von dem anderer erheblich. Und Alltage (nicht nur) sollten sich ähnlich sein, wenn es mittel- bis langfristig gelingen soll.
Natürlich ist es schön und wichtig, beim Kennenlernen zu spüren, dass man den selben Humor teilt, die selbe Musik mag.
Und niemand wird ernstlich beim ersten langen Augenkontakt, nach dem ersten Kuss, dem ersten Sex schon über Kinder, Familie und Haus sprechen wollen. Aber es ist schon verdammt wichtig, möglichst früh die Karten auf den Tisch zu legen, wo man zu Kompromissen bereit wäre und wo nicht. Und alle, die (zu Teilen) auf einem eigenen Leben bestehen, und nicht einfach ein gemeinsames oder gar nur das des anderen wollen, haben von Beginn weg den Mund aufzumachen.
Übrigens, gelingende Beziehungen halte ich für einen Prozess. Und wie man das Kennenlernen gestaltet, ebenso. Die Chance im älter werden ist ja auch jene zurückblicken und aus Fehlern lernen zu dürfen.