Hallo ihr lieben, dazu ich habe in letzter Zeit tatsächlich ziemlich viel nachgedacht. Als Kontext erstmal, ich bin weiblich 28 Jahre alt, verheiratet, mit einer wundervollen Frau und Mutter eines 6 Monate alten Mädchens. Ich komme aus Deutschland und meine Familie auch. Ich habe zwei Schwestern und einen Bruder und in der weiteren Familie, 4 Tanten und 5 Onkel, etliche Cousins und Cousinen und Oma und Opa leben auch noch und das alles nur mütterlicherseits. Ich bin also Mitglied einer waschechten deutschen Großfamilie. Ich würde mich selbst als Feministin bezeichnen, ich bin für Gleichberechtigung, auch beim Wehrdienst und ich finde jeder Mensch, egal welchen Geschlechts, sollte sich frei entwickeln können, so wie diese Person es möchte. Jetzt zum Punkt.Aber durch ein Ereignis und meinen Beobachtungen des Verlaufes, habe ich, mit Schock, eine Seite an mir kennengelernt, von der ich nicht für möglich hielt, sie zu besitzen.Das Ereignis betrifft eine meiner Cousinen mütterlicherseits und fand vor etwa einem Jahr statt, also zu einem Zeitpunkt an dem ich bereits schwanger war. Sie war damals, wie ich jetzt, eine relativ frisch gebackene Mutter eines kleinen Mädchens. Wir feierten den Geburtstag meines Opas. Sie spazierte mit dem Mann im Schlepptau und dem Baby auf dem Arm, zu uns, in den Saal den wir extra gemietet hatten. Eine meiner Tanten stand auf und ging sie begrüßen, sie schaute das Baby an und erschrak plötzlich, denn es hatte Ohrringe drin. Die meisten von uns waren schockiert, einige sogar richtig erbost, ein paar war es egal. Ich dachte, die tickt doch nicht mehr richtig. Die Familie begann mit ihr zu diskutieren, sie versuchte sich zu erklären, aber sie kam am Anfang kaum zu Wort. Als sich die Lage beruhigt hatte, erklärte sie, sie habe der kleinen Ohrlöcher stechen lassen, weil sie selbst furchtbare Angst vor dem Ohrlöcher stechen hatte und ihr das ersparen wollte, außerdem fand sie das Risiko einer Entzündung, bei Kindergartenkinder und Grundschulkindern zu groß, da sie sich häufig an die Ohren fassten und viel rumtoben. Andererseits fände sie es furchtbar ungerecht, wenn die Mädchen um sie herum langsam alle Ohrlöcher bekommen sie aber nicht. Dazu war sie der Meinung, dass zu einem Mädchen, irgendwie, auch Ohrringe gehörten. Ein paar ihrer Argumente fand ich, zumindest teilweise, nachvollziehbar, aber das letzte war einfach nur Quatsch. Nach einer Weile beruhigte sich alles und um Opas Willen feierten wir weiter. Unsere Großfamilie hat eine ziemlich starke Bindung zueinander und deshalb sahen wir uns auch außerhalb von großen Festen regelmäßig. Also sah ich natürlich auch diese Cousine regelmäßig. Der große Schock hatte sich schnell gelegt und die meisten behandelten sie wie davor. Obwohl mir meine Familie extrem wichtig ist, bin ich eher introvertiert und deshalb beobachte ich öfters mal das Familiengeschehen aus der Ferne. Nach einer Weile ist mir eine Veränderung in der Dynamik der Treffen aufgefallen. Das Baby war bei meiner Familie plötzlich beliebter geworden und war auf einmal etwas interessanter als die anderen Babys. Viele drängten darauf Zeit mit ihr verbringen zu können, natürlich waren alle Babys beliebt, aber bei keinem anderen gab es so großen Andrang. Immer wieder fiel auch Lob über die süßen Ohrringe. Als ich das erkannte war ich erstmal total perplex, dann begann ich darüber nachzudenken. Ich bemerkte das auch ich die Ohrringe schon gelobt hatte, ganz unbewusst nebenbei, wie die meisten anderen vermutlich auch. Konnten die Ohrringe wirklich der Grund für die höhere Beliebtheit sein, fragte ich mich. Das schien mir absurd, zuerst. Die meisten, mich eingeschlossen waren doch dagegen. War es die Akzeptanz? Hatten wir uns damit arrangiert und machten das beste daraus? Wenn ja, warum war sie dann auf einmal beliebter als die anderen Babys? Ja die Ohrringe sahen ziemlich süß aus, aber es konnte doch nicht alles sein, die anderen Babys waren doch auch super süß, nicht weniger als sie. Ich versuchte meine Gedankengänge zu ergründen, warum fand sie auch bei mir mehr Anklang, als die anderen Babys? Die Antwort darauf gefiel mir nicht, so gar nicht. Sie war für mich süßer als die anderen Babys, weil ich sie mehr als Mädchen wahrnahm als die anderen Babys, als Mädchen und Jungs wahrnahm und der Grund waren tatsächlich die Ohrringe. Ich konnte es nicht glauben, ich wollte es nicht glauben, dass war doch Quatsch, aber so war es. Wir Menschen sind Personen die in Schubladen denken, wir wachsen auf und alles was sich in eine Schublade stecken lässt wird auch in eine Schublade gesteckt und das meistens vollkommen unbewusst. Dinge, Ideale, Werte, Personen, die uns begegnen werden einsortiert und mit dem abgeglichen was bereits einsortiert ist. Was dabei die höchsten Übereinstimmungen mit unseren erlernten Werten und dem gewohnten hat, finden wir am sympathischsten. Diejenigen mit geringer, gar keiner oder entgegengesetzer Übereinstimmung, werden von uns abgelehnt. Durch bewusstes denken, kann man dem entgegen steuern, aber nur bis zu einem gewissen Grad, denn z.B. Charaktereigenschaften die wir falsch finden, werden nicht durch bewusstes denken auf einmal positiv. Es sei den wir finden einen Grund warum es doch keine schlechte Charaktereigenschaft ist. Wir wachsen also auf, gehen durch die Welt und die allermeisten Frauen und älteren Mädchen, denen wir begegnen, haben Ohrlöcher und tragen Ohrringe, unser Verstand bemerkt das und sortiert 'Ohrringe' und 'Ohrlöcher' unter weiblich/Mädchen/Frau ein, natürlich meistens unbewusst. Wir verbinden von da an Ohrringe mit dem weiblichen Geschlecht und erwarten dann auch das Mädchen/Frauen Ohrringe tragen. Wird diese Erwartung enttäuscht, sind wir irritiert und gibt es einen Sympathie Malus, der ist vollkommen unbewusst und meistens auch minimalst, aber da ist er. Menschen des weiblichen Geschlechts die Ohrringe tragen, wirken auf uns stimmiger, Männer/Jungs die Ohrringe tragen, irritiert dagegen unser Schubladendenken. Deshalb, denke ich, gibt es auch so viel Ablehnung dafür. Die Menschen sagen, es sieht einfach nicht aus, es ist unmännlich und meiner Meinung nach liegt das daran, dass der Platz für Ohrringe,in unseren Schubladen, bereits festgelegt ist und zwar unter weiblich. Es gibt natürlich genug Menschen die sich außerhalb dieses Schemas bewegen und keine Probleme damit haben.Nachdem mir das alles klar wurde, musste ich meine Behauptung, dass es Quatsch wäre das Ohrringe zu einem Mädchen dazugehören, zumindest auf rein persönlicher Ebene revidieren, denn ich erkannte, dass ich das genauso sah. Ja für mich gehörten zu einem Mädchen Ohrringe.Mir das einzugestehen war mir unglaublich schwer gefallen.Ich war doch weiter! Nein, war ich nicht.Jetzt damit konfrontiert, saß ich ein wenig in der Patsche. Der Geist war aus der Flasche und ließ sich nicht mehr zurück stecken.Fortan hatte ich eine deutlich gesteigerte Aufmerksamkeit, gegenüber Ohrringen und Ohrlöchern. Mir fiel plötzlich jede Frau und Mädchen auf, die keine Ohrringe trugen oder Ohrlöcher hatten und gegen meinen Willen, störte es mich. Seitdem nahm ich, ganz automatisch, eine beschützende Haltung gegenüber Eltern ein, die ihren Töchtern Ohrlöcher stechen ließen, egal in welchem Alter.Dass wurde mir allerdings immer erst hinterher bewusst. Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen und versuchte mit allen Mitteln, dieses Empfinden zu überwinden, doch es ging nicht, es steckt einfach zu tief in mir drin.Das schlechte Gewissen begann mich aufzufressen, ich fühlte mich immer mieser und konnte kaum mehr schlafen. Letztendlich wurde mir klar, dass es so nicht mehr weitergehen konnte und ich eine Entscheidung treffen müsse. Ich beschloss also mit der Verdammung aufzuhören und dachte nochmals darüber nach. War es den so schlimm, so zu fühlen und denken? Musste man die Welt wirklich vollkommen neutral sehen?War es nicht okay, ein paar Ansichten zu haben, die vielleicht ein bisschen überholt waren, solange sie niemandem schadeten?Ich entschied, es sei okay.Ich akzeptierte das ich so empfand und dachte. Und mit der Akzeptanz verschwanden auch die Gewissensbisse und die stark überhöhte Aufmerksamkeit. Es fällt mir zwar immer noch häufiger auf als früher, aber viel seltener als davor und es belastet mich nicht mehr. Ich sehe es mittlerweile eher mit einer Art schmunzeln.Ich vermutete, dass aus demselben Grund die anderen Familienmitglieder, die kleine so gern hatten.Ich habe mit meiner Familie über meine Beobachtungen und Vermutungen gesprochen und nach und nach, bekam ich tatsächlich Feedback. Viele Familienmitglieder haben sich tatsächlich ertappt gefühlt und nach dem sie darüber nachgedacht hatten, wurde ihnen klar, dass sie das tatsächlich so empfanden.Es war nicht schön zu bemerken, dass man nicht so fortschrittlich war wie man dachte, aber der Selbstbetrug dem wir alle aufgesessen waren, ist auch keine Lösung. Nur wenn einem die Dinge bewusst sind, kann man an ihnen arbeiten und manchmal bemerkt man dann dabei auch, dass es gar nichts zu arbeiten gibt und es nur wichtig ist, dass es einem bewusst ist. Meine Tochter hat übrigens mittlerweile Ohrlöcher und bereuen tue ich es nicht.