sisteronthefly"Allerdings hat jeder auch das Recht zu sagen, ich kann das nicht, ich will das nicht. "
Unbedingtes JA!
Ich finde diesen moralischen Imperativ ala "man darf keinen Menschen wegen einer Krankheit im Stich lassen!" wirklich grundfalsch - für alle Beteiligten.
Und ja, an allgemeiner Aufklärung fehlt es da - bei verschiedenen Krankheiten. Nicht nur psychischen. Es bessert sich... laaaaaaaaaaaangsaaaaaaaaaaaam ....
Und noch ein Punkt, der mir schon wiederholt in diesem Thread jetzt aufgefallen ist - es geht nicht mal primär um den Spannungsabbau. Viel, viel wichtiger ist es, das "Grundlevel" der Anspannung im Auge zu behalten.
In dem Aspekt greift wieder der Vergleich mit der Diabetis: Ja, klar, wenn man schnell mal eine Sahnetorte vertilgt (ich hoffe, das Beispiel passt, so viel Ahnung habe ich da jetzt auch nicht mehr) wird man einen ziemlich unschönen Zuckerschock haben.
Aber im Alltag ist doch nicht "pack ihm nicht eine ganze Sahnetorte auf den Teller" wichtig. Wichtiger ist es, den Blutzuckerlevel insgesamt im Auge zu behalten. Eine Scheibe Brot mehr ist nicht per se das Tor zur Katastrophe. Aber sie kann der Tropfen im schon vollen Fass sein.
Dass ich das letzte Mal regelmässig für einen Diabetiker gekocht habe, ist jetzt fast 30 Jahre her, das meiste weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, es gibt sowas wie "Broteinheiten pro Tag", die nicht überschritten werden sollten - und wenn dann als sehr seltene Ausnahme, nicht als Regel - auch wenn er nach jeder Mahlzeit das Insulin für diese Mahlzeit individuell dosiert hat. Ich wußte, er muss regelmässig essen, nix mal mit "ach lassen wir das Mittagessen heute aus und machen dafür 16 Uhr ein größeres Kaffeekränzchen" und ich wußte in etwa, was ist "böses Essen" und was ist "gutes Essen" - und ich habe am Anfang jede einzelne Mahlzeit abgesprochen und eine Million Fragen gestellt, was jetzt geht, was nicht und wie viel von allem. Schon allein, weil ich ihn ersparen wollte, dass er mit "ich muss jetzt aber essen" unsere gerade so lustige Skatrunde sprengt. Oder gar das weg lässt, weil er die Runde nicht sprengen will. Oder über das Spielen selbst die Zeit vergisst und die Zeichen übersieht. Oder ich etwas auf den Tisch stelle, was so gar nicht geht. Oder an diesem Tag nicht geht, weil es nicht mehr zu den anderen Mahlzeiten passt. Oder....
Ich habe mich mit ihm darüber unterhalten, was wie zu tun wäre, wenn er doch mal ohnmächtig werden sollte o.ä. (und was ich in der Situation tunlichst unterlassen soll). Woran ich - auch ohne im 10min Takt zu messen - erkennen kann, dass vielleicht gerade etwas nicht richtig läuft - natürlich vorzugsweise bevor er umkippt. Was vielleicht schlimmer aussieht, als es ist - und was der Punkt ist, ab dem ich Großalarm auslösen und den Rettungswagen rufen muss. Was nun einmal nicht bei jeder Ohnmacht der Fall ist, auch wenn die schon unter die Haut geht, wenn man das noch nie gesehen hat und daneben steht. Nicht ganz so lustig und auch nicht egal, kann ich versichern.
All das, weil es auch wichtig war und obwohl es Medikamente gibt.
Würden Menschen, die mit einem Borderliner zusammen leben, in solchen Dingen genauso eifrig sein wie Menschen, die mit einem Diabetiker zusammen leben, gäbe es weniger Probleme.
Ist bei uns Grenzgängern in vielem vergleichbar.
Es gibt ein Stress- / Anspannungslevel, was in der Summe der Einzelereignisse über einen gewissen Zeitraum nicht überschritten werden sollte. Dabei gibt es Situationen, die stark oder extrem stark negativ ins Gewicht fallen (= Trigger) , Situationen, die neutral sind und Situationen, die im Gegenteil das Grundlevel teils erheblich senken ( = Skills). Es gibt auch sowas wie "Insulinspritzen", vor allem aber ist es immer wichtig zu wissen, wo man grundsätzlich gerade steht, dass das Level regelmässig ausgleicht und im Blick behält.
Anders ausgedrückt: Ein Liter Wasser bringt ein Fass nur dann zum Überlaufen, wenn es vorher schon nahezu voll war. Ein Liter Wasser in ein leeres oder halbleeres Fass ist hingegen kein Drama.
Und alles in allem auch nicht schwieriger als bei einem Diabetiker. Vorausgesetzt der Borderliner kümmert sich vor allem selbst um seine Gesundheit. Aber das ist auch nicht besser, wenn der Diabetiker sich nicht die Bohne darum kümmert.