dickunddoof schrieb:
> Hallo liebe Community,
> weil die Frage gerade in einem anderen Thread aufkam, würde mich interessieren,
> wie eure Sicht auf dieses Thema ist
>
> Genießen Straftäter, insbesondere schwerwiegenderer Delikte wie Mord,
> Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Menschenrechte?
> Oder sind die plötzlich einfach weg?
> Kann man die überhaupt verlieren?
> Oder können die aberkannt werden?
> Ich freue mich auf eure Meinungen
>
> Liebe Grüße
> und schönen Tag euch allen
Es gibt Rechtsgüter und es gibt Rechte.
Rechte sind ausübbar/wahrnehmbar/manche auch übertragbar. Rechte können auch aufgegeben werden.
Zum Beispiel das Recht, Auto zu fahren wenn man einen gültigen Führerschein hat, kann man ausüben indem man Auto fährt. Man kann es aufgeben, indem man den Führerschein abgibt.
Rechtsgüter sind untrennbar mit ihrem Träger verbunden. Zum Beispiel die Gesundheit. Die eigene Gesundhait kann man nicht ausüben oder an jemand anderen übertragen oder von jemand anderem, der sie einem abstempeln und aushändigen soll, einfordern.
Zu den Rechtsgütern gehört die Menschenwürde.
Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lautet:
| (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
| Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
| (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen
| Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens
| und der Gerechtigkeit in der Welt.
| (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
| und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die Menschenwürde ist ein unantastbares Rechtsgut.
Man kann sie niemals verlieren, egal was für Verdienste oder Schandtaten man anhäuft.
Egal, was mit einem angestellt wird oder was man selbst anstellt.
Egal in was für Seinszustände und Bewusstseinslagen man gerät.
Dies gilt für alle Menschen. Für jeden Menschen. Zu jeder Zeit. An jedem Ort.
Dieses einfache Postulat steht Gedankengebäuden entgegen, wie es sie zB im Dritten Reich gab, denenzufolge Menschen, zB durch entwürdigende Behandlung, etwa Mißhandlung und Schinderei, zu etwas gemacht werden könnten, was keine Menschenwürde mehr hat, woraufhin wiederum menschenunwürdige und unmenschliche Behandlung, zB Folter und Ermordung in Konzentrationslagern, legitimiert sei.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Der Staat ist verpflichtet, sich effektiv dafür einzusetzen, dass dem Umstand, dass Menschen eine Menschenwürde haben, richtig Rechnung getragen wird.
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten
Aus dem Umstand, dass jeder Mensch eine Menschenwürde hat, die ein zu schützendes Rechtsgut darstellt, werden Mnschenrechte abgeleitet, die jeder Mensch hat, und die kein Mensch verlieren oder an jemand anderen abtreten oder aberkannt bekommen kann.
Egal was für Verdienste oder Schandtaten man anhäuft.
Egal, was mit einem angestellt wird oder was man selbst anstellt.
Egal in was für Seinszustände und Bewusstseinslagen man gerät.
Dies gilt für alle Menschen. Für jeden Menschen. Zu jeder Zeit. An jedem Ort.
Es müssen aber nicht alle Menschen gleich behandelt werden, weil sie Menschenwürde und Menschenrechte haben.
Zum Beispiel sind auch Leute, die keine Verbrecher sind, sehr unterschiedlich darin, was ihren Seelenfrieden beeinträchtigt und was nicht.
ZB dürfen Verbrecher bestraft werden. ZB darf man von Schadensverursachern Schadenersatz verlangen. ZB dürfen gemeingefährliche Leute in Sicherheitsverwahrung genommen/überwacht werden. ZB muss das Recht dem Unrecht nicht weichen. ZB darf man sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (mildestmögliche zweckdienliche Mittel) wehren. ZB darf man sich Gedanken über Schutzwehr und Trutzwehr machen. Das muss sogar passieren, denn die Rechte des einen hören da auf, wo die Rechte des anderen anfangen. Und der Menschenwürde der Gefährdeten und der Verbrechensopfer muss auch richtig Rechnung getragen werden, und die Menschenrechte der Gefährdeten und der Verbrechensopfer müssen auch gewahrt werden. Aber auf eine Weise, bei der dem Umstand, dass auch die Verbrecher eine Menschenwürde haben, richtig Rechnung getragen wird.
Man überlege sich, was es mit einem selbst, mit der eigenen Seele macht, wenn man selbst eigenhändig, ihm Auge in Auge gegenüberstehend, einen anderen Menschen, und sei es auch ein schlimmer Verbrecher, unmenschlich behandelt. Diejenigen, die danach schreien, bei bestimmten Verbrechen hätten die Täter Menschenwürde und Menschenrechte verwirkt, und dürften/müssten etwa abgeschlachtet werden, sollten sich überlegen, was eine solche Sichtweise denjenigen Menschen antut, die dabei als Vollstrecker tätig werden sollen.
Ich kenne hier in Berlin zB einen Roma, der mir erzählt hat, dass sein Großvater, solange er ihn gekannt hat, ein gebrochener Mann war, weil man ihn und andere der in seinem Heimatland verachteten Minderheit der Roma Angehörige gezungen hat, im Lager für politische Häftlinge als Wärter zu arbeiten und Todesurteile zu vollstrecken, also die moralische Drecksarbeit zu machen, an der sich diejenigen, die im sauber geputzten Gerichtssaal im schicken Anzug die Urteile gesprochen hatten, nicht die Hände schmutzig machen wollten. Hätte er sich geweigert, wären er und seine Familie auch als Oppositionelle verurteilt worden und zumindest im Straflager gelandet.
Sollte ich Opfer eines Verbrechens werden, dann soll man dem Verbrecher Einhalt gebieten bevor er noch mehr Leute zu Verbrechensopfern macht, dann soll er ggfs Schadensersatz leisten (zB meine Behandlugskosten bezahlen und aus seinem Vermögen dafür aufkommen wenn ich mich selbst nicht mehr versorgen kann), dann darf er nicht von seiner Tat profitieren, dann soll er bestraft werden soweit das ihn selbst und andere von ähnlichen Taten abschreckt/abhält, dann soll er überwacht und in Sicherungsverwahrung gesteckt werden soweit das nötig ist um sicherzustellen, das er keine solchen Verbrechen mehr begeht.
Aber ich will dann nicht hören, dass es mir, meiner Natur/meinem Selbst/meiner Lebensführung/meiner Identität, gerecht wird, sich gegenüber dem Täter - einem anderen Menschen - bestialisch zu verhalten.
Zu behaupten, dass es mir gerecht wird, sich gegenüber einem anderen Menschen bestialisch zu verhalten, wäre für mich ein weiterer Schlag ins Gesicht.
Was die These angeht, zB Vergewaltigungsopfer sollten selbst über das Strafmaß für die Täter entscheiden dürfen:
Menschen neigen, wenn die Amygdala das Regiment übernommen hat, nicht gerade zur Verhältnismäßigkeit.
In diesem Zusmmenhang sei auf Dietrich Bonhoeffers Theorie der Dummheit und auf Daniel Kahnemans "Schnelles Denken, langsames Denken" verwiesen.
Sofern man Verbrechensopfer entscheiden lässt, sollte die Entscheidung erst erfolgen, wenn sie in einem Seinszustand sind, in dem ihnen Verantwortung zugemutet werden kann, in dem nicht nur die Amygdala regiert, sondern auch die Vernunft, und ein Blick für Verhältnismäßigkeit da ist. Und dann sollte man sie mit dieser Verantwortung nicht allein lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass zB ein vierjähriges vergewaltigtes Kind mit der Entscheidung über das Strafmaß überfordert wäre und/oder später schwer an der Frage tragen würde, ob es damals beim Strafmaß richtig entschieden hat und sich fragen wird, warum man es mit dieser Entscheidung allein gelassen hat.
Das ist einer der Gründe, warum es in unserem Rechtssystem Richter/innen gibt, die ggfs Urteile fällen müssen, ob sie wollen oder nicht: Damit Leute, die sich vorher keine tiefgründigen Gedanken über diese Dinge und die richtigen Herngehensweisen gemacht haben, mit den mit dem Fällen von Urteilen verknüpften ethischen Dilemmata nicht allein gelassen sind. Ich kann mir vorstellen, dass es zumindest für manche Richter/innen, die ein Gewissen haben, nicht immer lustig ist, mit einem Fall konfrontiert zu werden und zu wissen, dass es an ihnen ist, ein Urteil zu fällen, dass sie nicht darum herum kommen, ein Urteil zu fällen, egal, wie wohl/sicher sie sich bei der Entscheidung fühlen. Wenn sie ein Urteil fällen müssen, aber eigentlich lieber wollen, dass jemand anders die endgültige Entscheidung trifft, gibt es bei Richter/innen mitunter die Tendenz, Urteile so zu fällen, dass auf jeden Fall in Revision gegangen und auf der nächsthöheren Instanz verhandelt wird.
Unser Rechtssystem ist in der Praxis alles andere als perfekt.