Besser spät als nie...
Liebe evilyn,
über den Eintrag "weinen +forum" stiess ich sofort auf deinen Beitrag. Ich hoffe, dass du nochmal hier herein schaust. Weil mir die Info, die ich hiermit an dich weitergeben will, LEBENSWICHTIG ist.
Zunächst: mir geht es oft wie dir. Kleine Anlässe, und ich heule los. Nicht wegen dem kleinen Anlass, sondern wegen dem, was dahinter steckt. Missverständnisse zwischen Menschen, die sich eigentlich lieben, Intoleranz, die Ungerechtigkeit auf dieser Erde, manchmal auch, wenn etwas ganz besonders schön ist...
Zum erstenmal ist mir klar geworden, dass das ein besonderes Phänomen ist, als ich (etwa 1989) den Film "Das brennende Bett" mit Farrah Fawcett Majors gesehen hatte. Vielleicht hatte der Film mit mir, mit meiner Situation zu tun. Geweint habe ich danach über zwei Stunden lang darüber, dass eine Gesellschaft eine Frau dazu bringen kann, so etwas zu tun...
Kennst du den Film "Dumbo"? Ich habe ihn mit meinen Mädchen bestimmt an die fünf- bis sechsmal gesehen. Wenn die Szene kommt, in der die Elefantenmutter eingesperrt wird, und Dumbo dann aus dem Gefängnis heraus nur mit dem Rüssel und ihrem Gute-Nacht-Lied tröstet, dann fließt es bei mir, ich bin sicher, auch heute noch, wo meine Mädels längst aus dem Alter heraus sind.
Mit meiner Familie ging es mir so ähnlich wie dir mit deiner. Als älteste von vier Töchtern war und bin ich immer noch der Rebell, das schwarze Schaf. Im Alter von 16 von zuhause ausgerissen, viel zu früh Mutter von viel zu vielen Kindern (5), keine Berufsausbildung (bis 36, da habe ich eine Sekretärinnenausbildung gemacht), ohne Eigentumswohnung, zweimal geschieden, als einzige am rauchen, usw. und so fort....
Bei der geringsten Erwähnung eines meiner Minuspunktes war ich nicht mehr fähig klar zu denken, klar zu handeln, mich, meinen Lebensstil und meine Kinder zu verteidigen. Wegen des Wasserschwalls, der da über mich kam. Es ging so weit, dass ich die Besuche im Elternhaus stark einschränkte, im Nachhinein sehr bedauerlich, weil ich vom Leiden und Sterben meines Vaters vor fünf Jahren sehr wenig mitbekommen habe.
Früher, bevor ich dieses Buch in die Hand bekam, schämte ich mich ebenfalls dafür, so "nah am Wasser gebaut zu haben". Dann habe ich, in der vierten Schwangerschaft, getrieben vom Grauen vor dem ständig plärrenden Säugling die Lösung meines "Problems" gefunden: Aletha J. Solters Buch "Warum Babys weinen"
Hier geht es nicht darum, das Weinen abzustellen. Das tun wir alle. Sofort. Von Anfang an. Und das Kind lernt schnell. Dass Weinen nicht akzeptiert wird. Dass Mama und Papa ungehalten reagieren, wenn "Kind" weint. Dass man einen Schnuller in den Mund gesteckt, Kekse angeboten bekommt (Ersatzbefriedigung, spätere Erscheinungsform: übermäßiges Essen, Rauchen (ich), Trinken (auch ich, später), Drogenkonsum), viel herumgetragen, abgelenkt wird (Ersatzbefriedigung, spätere Erscheinungsform: Ablenkung durch Fernsehen oder andere Kulturangebote, Feste, Feiern, Clownerien, übermäßiger Einsatz in Vereinen, auf der Arbeit usw.). Ganz brutal wird es, wenn der fehlende Stessabbau in Gewalt mündet, Gewalt gegen Sachen und vor allem gegen Personen.
Also, Solter erklärt in ihrem Buch ganz schlüssig, dass Weinen nur eines bezweckt: Stressabbau. Wenn du mal ganz genau nachfühlst, wie es dir geht, nachdem du ausreichend weinen konntest, wirst du das gut verstehen. Sei' froh, dass du weinen kannst. Du gehörst zu den wenigen Menschen, die keinen Buckel bekommen werden, keine Enttäuschungsfalten im Gesicht (wie die Merkel) und bestimmt keine Magengeschwüre.
Was du lernen musst, wie du schreibst willst, ist eine Anleitung dafür, anderen Menschen nicht zur Last zu fallen, mit deinem Weinen. Auch ich habe -jetzt endlich- einen sehr verständnisvollen Partner, der sich trotzdem schuldig fühlt, sollte ich mal wieder "schwimmen". Ich sage ihm dann, dass es nichts mit ihm zu tun hat, ungefähr den Grund, den er natürlich, Pragmatiker, der er ist, nicht versteht, aber akzeptiert, und bitte ihn, mich einfach nur festzuhalten, falls er das kann, ansonsten, mich in Ruhe weinen zu lassen. Es funktioniert!
Bei gesellschaftlichen Gelegenheiten bei denen es sich eh' schickt (Beerdigung, leidenschaftliche politische oder soziale Reden, Verabschiedungen) verdrücke ich dann schon die eine oder andere Träne, ohne dass ich es belastend finde für die Leute um mich rum.
Bitte, bitte, besorg' dir dieses Buch! (ich biete es demnächst bei ebay an, nicht weil ich Geld machen will, sondern weil es mir ein Bedürfniss ist, es meinen Mitmenschen nahe zu bringen). Schau' halt erstmal in der Stadtbücherei nach. Habe ich auch gemacht, bevor ich es mir (weil ich es verliehen hatte, doppelt) kaufte. Ich weiß, du bist Studentin, hast wohl noch keine Kinder, aber trotzdem... Auch du bist in der Lage, dich selbst als Kind, als Säugling zu sehen, dich zu sehen als kleines, hilfsbedürftiges Baby, und dich auf den Arm zu nehmen, dir selbst Verständnis zu geben und dein eigenes Weinen zu unterstützen...
Bereite dich darauf vor, dass es dauern wird. Ich selbst habe fünfzehn Jahre gebraucht, von der Erkenntnis bis zu meiner Überzeugung, dass ich diese weitergeben möchte, muss.
In diesem Sinne: Lass' uns aus vollem Herzen weinen, auf dass wir aus vollem Herzen auch lachen können!
Liebe Grüße, ghellina
P.S. Vor lauter Missionsbewusstsein bin ich garnicht richtig eingegangen auf das Problem mit deiner Mutter: Liebes, wir Frauen haben alle die gleiche Erfahrung: wir identifizieren uns mit ihr, wir lehnen sie ab, wir wollen alle ganz anders sein und trotzdem wünschen wir uns nur das eine: Sie soll uns lieben. So wie wir sind. Ein absolut berechtigter Wunsch. In einer idealen Gesellschaft würde uns unsere Mutter ihre uneingeschränkte Liebe vermitteln und gleichzeitig uns das Rüstzeug für den Umgang mir der Welt mitgeben.
Wir leben aber nicht in einer idealen Gesellschaft. Auch unsere Mütter sind Produkte ihrer Umwelt, der Vorstellungen ihrer Eltern und der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. Erst wenn du begriffen hast, das deine Mutter nicht anders kann, als dich zu kritisieren, weil sie sonst ihre eigenen Maßstäbe in Frage stellen müsste, wenn du ihr das verzeihst, weil du es verstehts, wirst du erkennen, dass sie dich wirklich liebt, auf ihre eigene, unvollkommene Art und Weise.