Ein weinendes Baby veranlasst viele Eltern zu großer Beunruhigung. Wenn dein Baby weint und du nicht weißt warum, können Gefühle der Angst, Hilflosigkeit, Frustration, Unfähigkeit und sogar Zorn und Feindseligkeit aufkommen. Es gibt viele Ratschläge über weinende Babys, aber die meisten von ihnen vernachlässigen es, die wirklichen Gründe für das Weinen zu erklären, und sie bieten Vorschläge an, welche der emotionalen Entwicklung deines Babys schaden.
Es gibt zwei Gründe, warum Babys weinen. Ein Grund ist, ein Bedürfnis oder Unbehagen mitzuteilen. Vielleicht sind sie hungrig, gelangweilt, ihnen ist kalt, oder sie wollen einfach nur gehalten werden. Manchmal ist es schwer herauszufinden, was sie brauchen. Die Aufgabe der Eltern und Betreuer ist es zu versuchen, die Bedürfnisse des Babys so schnell und sorgfältig wie möglich zu erfüllen. Babys können nicht verwöhnt werden. Es ist unmöglich, ihnen zu viel Liebe, Aufmerksamkeit und körperlichen Kontakt zu geben.
Der zweite Grund des Weinens im Säuglingsalter wird viel weniger verstanden. Viele Babys weinen, obwohl alle Grundbedürfnisse erfüllt wurden und sogar während sie gehalten werden. Diese Art des Weinens, welches im Alter von sechs Wochen am intensivsten vorkommt, wird als Kolik oder gereiztes Weinen bezeichnet. Es kann einige Stunden am Tag dauern. Die üblichen Erklärungen für dieses Weinen haben sich auf mögliche körperliche Probleme wie Blähungen oder Verdauungsstörungen konzentriert. Jedoch haben Untersuchungen gezeigt, dass Babys mit Kolik meist eine normale Verdauung haben und sich gewöhnlich bester Gesundheit erfreuen. Daher ist es notwendig, die möglichen emotionalen Gründe des Weinens zu berücksichtigen.
Säuglinge sind extrem verwundbar, und sie haben sehr großen emotionalen Schmerz, der sich aus einer Ansammlung von stressigen Erlebnissen ergibt. Schmerz kann durch eine traumatische Geburt oder Schwierigkeiten nach der Geburt verursacht werden. Babys erfahren Verwirrung, während sie versuchen, die Welt zu verstehen, und sie sind schnell eingeschüchtert und überreizt. Außerdem fühlen sie sich frustriert, wenn sie versuchen, sich mitzuteilen und neue Fertigkeiten zu erlernen. All dies hat den emotionalen Schmerz, der im Körper gesammelt wird, zur Folge.
Glücklicherweise werden Babys mit einem Reparaturwerkzeug ausgestattet und können die Stressauswirkungen durch den natürlichen Heilmechanismus des Weinens überwältigen. Die Forschung hat gezeigt, dass Leute jeder Altersgruppe aus dem Weinen Nutzen ziehen und dass Tränen helfen bei Stress, das chemische Gleichgewicht des Körpers wiederherzustellen. Ein Säugling, der einige Tage in einem Inkubator ohne menschlichen Kontakt isoliert wurde, muss mehrere Monate lang viele Stunden weinen und wüten, um sich vom emotionalen Schmerz, der durch ein so schreckliches und verwirrendes Erlebnis verursacht wurde, zu befreien. Wenn ein drei Monate alter Säugling bei einem Familientreffen unter vielen unbekannten Leuten herumgereicht wurde, kann dies zur Folge haben, dass er nachher sehr lange weinen muss. Ein sechs Monate alter Säugling, der den ganzen Tag versucht hat, vorwärts zu kriechen, und es doch nur rückwärts schaffte, braucht wahrscheinlich am Ende des Tages, um seine Frustrationen abzubauen, das Weinen und Wüten, bevor er friedlich in den Schlaf sinken kann. Bei diesen Beispielen ist das Weinen keine Verletzung; sondern es ist der Prozess der Heilung.
Was können Eltern tun? Zuerst ist es wichtig zu überprüfen, ob unmittelbare Bedürfnisse und Unbehagen wie zum Beispiel Hunger oder Kälte vorliegen. Aber wenn das Baby, nachdem du seine Grundbedürfnisse erfüllt hast, noch immer unruhig ist, ist es angemessen, das Baby einfach liebevoll zu halten und ihm das Weiterweinen zu erlauben. Babys brauchen Nähe und Aufmerksamkeit, wenn sie weinen. Ein Baby sollte nie beim Weinen alleingelassen werden. Selbst wenn du dich beim Halten deines weinenden Babys nutzlos fühlst, versorgst du in Wirklichkeit dein Baby mit der nötigen emotionalen Unterstützung, während es sich auf diesem Weg von seinem Stress entlastet. Dein Baby lehnt dich nicht ab, wenn es weint. Es fühlt sich vielmehr sicher genug, dir seine Gefühle zu zeigen, genauso wie wenn du in Tränen ausbrichst, wenn ein vertrauter Freund seinen Arm um dich legt und du zugibst, dass du einen schweren Tag hattest. Eltern, die ihre Babys halten und ihnen erlauben, sich auf diesem Weg auszudrücken, bemerken gewöhnlich, dass ihre Babys nach dem Weinanfall entspannt und zufrieden sind und in der Nacht besser schlafen.
Warum ist es so schwierig, ein weinendes Baby zu halten und das Weinen zu akzeptieren? Vielleicht weil nur wenige Menschen nach Bedarf weinen durften, als sie klein waren. Deine Eltern haben vielleicht versucht, dich vom Weinen abzuhalten, als du ein Baby warst. Vielleicht gaben sie dir einen Schnuller oder fütterten, schaukelten dich oder haben dich jedes Mal, wenn du weintest, gewiegt, in der Annahme, dass du diese Ablenkungen in diesem Moment brauchtest. Vielleicht versuchten sie, dich mit Spielzeug, Musik oder Spielen abzulenken, obwohl du eigentlich nur ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und Liebe gebraucht hättest, damit du dein Weinen fortsetzen konntest. Sie haben vielleicht vom Doktor Beruhigungsmittel verlangt, um dich zu besänftigen, oder sie haben dich beim Weinen alleingelassen, weil sie dachten, dass sie jetzt nichts für dich tun könnten. Vielleicht haben sie dich sogar geschlagen oder angeschrien vor lauter Frustration und Verzweiflung. Als du älter wurdest, hast du vielleicht mehr Ablenkungen oder Strafe von deinen Eltern oder Lehrern erfahren, weil sie sich ärgerten über deine Versuche, dich von deinen Gefühlen durch das Weinen zu entlasten.
Deine Eltern dürfen nicht getadelt werden, denn sie hatten einfach keine Information über die Wichtigkeit des Weinens. Jedoch wegen der Prägung in deiner Kindheit findest du es vielleicht schwer, die Notwendigkeit des Weinens bei deinen eigenen Kindern zu erkennen. Du fühlst dich vielleicht unbewusst gedrängt, deine Kinder auf dem gleichen Weg wie deine Eltern vom Weinen abzuhalten. Es braucht Zeit, um ein Leben der Einprägung rückgängig zu machen. Vielleicht solltest du deinen eigenen Tränen einmal freien Lauf lassen. Das wäre mein Rat. Wenn du jemanden findest, der dir zuhört, um so besser. Du wirst dich nachher viel besser fühlen, und du wirst das Weinen deines Babys vielleicht ein bisschen akzeptabler finden. Wenn du fühlst, dass du frustriert und erschöpft wirst, weil dein Baby viel weint, verdienst du jede Hilfe und Unterstützung, die du finden kannst.
Die Autorin:
Aletha Solter, Ph.D., ist eine international bekannte Entwicklungspsychologin, Beraterin, Direktorin des Aware Parenting Institute und Autorin von drei Büchern, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Die deutschen Titel lauten: Warum Babys weinen (Kösel-Verlag und dtv), Wüten, toben, traurig sein (Kösel-Verlag) und Auch kleine Kinder haben großen Kummer (Kösel-Verlag).
Sie leitet in vielen Ländern Seminare für Eltern und beruflich engagierte Fachkräfte.