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Izady hat beschrieben, wie die marxistisch orientierte Kurdische Sozialistische Partei
der Türkei (TSPT) durch staatlich assoziierte Mechanismen bedroht wurde: Der Partei
Sekretär [der KSPT] lebt außerhalb der Türkei im Exil und viele Mitglieder wurden seit
der Gründung der Partei inhaftiert.198
Der Genozid an den Kurden in der Türkei Die Phase von 1980-1998
Der Militärputsch und seine Folgen
Seit dem von der NATO und den USA unterstützten Militärputsch von 1980199 wurde
die genozidale Politik gegen Kurden kontinuierlich fortgesetzt. Führende Autoren und
Menschenrechtsorganisationen unter anderen Ismail Besikçi, Yasar Kemal, Ismet Imset,
Bernice Reubens, Harold Pinter, Haluk Gerger, Article 19, Kurdish Human Rights Watch,
die UK Parliamentary Human Rights Group und der türkische Menschenrechtsverein
(IHD)- haben kategorisch erklärt, daß ein Völkermord an den Kurden im Gange ist.200 So
kam Article 19 zu folgendem Fazit:
Wir meinen, daß es inzwischen ausreichende Beweise gibt, die türkische Regierung
wegen grober Menschenrechtsverletzungen anzuklagen, dazu gehören die Verstöße
gegen die europäischen Menschenrechtskonvention, die UN-Konvention gegen Folter
und andere grausame, inhumane oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen,
gegen das UN Abkommen zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord sowie
Verstöße gegen weitere Konventionen, die die Türkei unterzeichnet hat.201
Mustafa Al Karadaghi, Direktor von Kurdish Human Rights Watch, hat erklärt:
Die türkische Armee ... führt, unter dem Deckmantel der Terroristenbekämpfung, ...
einen genozidalen Feldzug gegen die Kurden in der Türkei durch. Mit Terroristen
meinen die Machthaber die PKK. Die türkische Armee, ausgestattet mit 500.000
Soldaten und modernen amerikanischen Waffen, führt einen Krieg gegen die Kurden
mit dem offensichtlichen Ziel der ethnischen Säuberung, um sie aus ihrem angestammten
Gebieten zu vertreiben.202
Harold Pinter spricht von einer:
traurigen Parallele und Übereinstimmung zwischen der Situation in Osttimor und
der Situation in der Türkei hinsichtlich der Kurden. In beiden Fällen kann man von
Völkermord sprechen. Völkermord hat stattgefunden durch den Mord an Tausenden,
der totalen Verweigerung von Menschenrechten, brutaler Mißhandlungen der Bürger
des Landes, dem Schweigen der internationalen Presse, besonders der Presse, die wir als
demokratisch bezeichnen bzw. bezeichnen sollen.203
Der türkische Soziologe Ismail Besikci, der bis 1999 für Gesinnungsstraftaten im
Gefängnis saß, weil er gewagt hatte, das Wesen des kurdischen Völkermords zu herauszustellen,
hat dargelegt, daß heute wie zur Zeit der Militärjunta 1980-83 die Politik des
Staates und der Regierung nicht aufgehört hat, kurdisches Fernsehen, kurdische Bildung
und andere Rechte der Kurden als soziales Gefüge zu torpedieren ... Die türkische Repu36
blik wird ihre mörderische Politik nicht aufgeben, bis sie die kurdische Identität, Sprache,
Kultur und Geschichte ausgelöscht und durch abscheuliche Vorstellungen von
turanistischem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ersetzt hat.204
Diese genozidalen Prozesse und Strategien wurden laut Ismail Besikci seit 1980 auf
verschiedene Art und Weise planmäßig in Gang gesetzt. Es ist notwendig diese Prozesse zu
spezifizieren, zu verstehen und an die Öffentlichkeit zu bringen:
Die Zersplitterung und Vernichtung des kurdischen Volkes und die Annexion von
Kurdistan ist real. Die Vernichtung der armenischen und der assyrisch-aramäischen
Bevölkerung durch Verbannung und Völkermord ist real ... Die Zersplitterung, Vernichtung
und die Inbesitznahme des kurdischen Heimatlandes, Kurdistan, ist ein
Faktum ... Das Leugnen der kurdischen Identität, die Turkifizierung als systematische
Staatspolitik, der Einsatz aller möglichen Arten von Staatsterror physische Vernichtung
inbegriffen gegen jene, die darauf bestehen, Kurden zu bleiben, zeigt, daß ...
ein geheimer Völkermord vollzogen wird ...
Es werden Maßnahmen ergriffen, die dazu dienen Dörfer, Wälder, Getreidefelder,
Tabakplantagen und Bienenstöcke, also biologische Ressourcen, zu zerstören. Diese
Maßnahmen waren und sind dazu da, Menschen aus ihrer angestammten Heimat zu
vertreiben ... Meiner Meinung nach kommt ... man der Wahrheit sehr nahe, wenn man
(auch) ... die (verschiedenen) Maßnahmen dazurechnet, die einfach nur das Ziel der
Assimilation verfolgen. Es ist tatsächlich legitim und korrekt diese Politik ... und die
gewalttätige Entwurzelung und Vertreibung von Menschen aus ihrer angestammten
Umgebung als eine andere Form des Völkermords zu bezeichnen.205
Ähnliche Schlüsse wie Besikci zieht Haluk Gerger: Versuche der erzwungenen Assimilation
bestätigen nur, wie hartnäckig der Staat es ablehnt, sich mit der kurdischen Realität
auseinanderzusetzen ... Kurdische Kinder beginnen ihren Schulalltag mit der Erklärung,
daß sie stolz sind Türken zu sein und daß sie sich dem türkischen Leben in den Dienst
stellen wollen ... Wenn eine politische Partei die Existenz des kurdischen Volkes auch nur
erwähnt, muß sie mit dem sofortigen Verbot durch das Oberste Gericht rechnen ... Alle
friedlichen und demokratischen Kanäle, in denen [Kurden] über ihre Lage sprechen konnten,
wurden geschlossen. Die Regierung hat fast alle kurdischen oder pro-kurdischen
kulturellen und politischen Einheiten verboten oder versucht sie aufzulösen: Printmedien,
Verlagshäuser, Journalisten, Gewerkschaften, Bauernverbände und politische Parteien.
206
Gewalt und Krieg
Die Jahrzehnte des fortdauernden Krieges gegen die Kurden haben ihr eigenes Klientel
innerhalb des Establishments hervorgebracht. Der Krieg wird benutzt, um organisiertes
Verbrechen unter der Beteiligung von Sicherheitskräften, Staatsbeamten und Politikern
zu rechtfertigen. Die Mafia der Kriegsherren hat ein finanzielles Interesse an der Aufrechterhaltung
des Krieges.207 Imset zufolge wurde dieser Krieg auch weiter geführt, nachdem
1980 eine Militärjunta durch einen von der CIA und der NATO unterstützten Putsch an
die Macht gekommen war.208 Es gibt genügend Beweise, die dafür sprechen, daß ein
Sturz der Demokratie im Falle der Türkei den westlichen Interessen am Besten diente. Daß
37
auch die NATO dies erkannt hatte, kann nicht ernsthaft geleugnet werden.209 Die Militärjunta,
die von der US-Regierung und der NATO unterstützt wurde als es darum ging,
radikale und marxistisch-leninistische Gruppen und Verbände anzugreifen, verstärkte
ihre Maßnahmen gegen kurdische Vereinigungen.210
81.000 Kurden wurden zwischen September 1980 und September 1982 verhaftet.
Zwei Drittel der gesamten türkischen Armee wurde eingesetzt, um im Südosten des Kurdengebiets
das soziale Gefüge zu stören.211 1.790 mutmaßliche Mitglieder der illegalen Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) wurden festgenommen, darunter auch einige ihrer ZK-Mitglieder.
212 Eine barbarische Repression hatte darüber hinaus die Dezimierung anderer
kurdischer links-nationaler Parteien zu Folge.
Das Ausmaß der Gewalt gegen kurdische und andere als subversiv eingestufte kulturelle
und politische Gruppen während der Herrschaft der Militärjunta ist erschreckend:
Mit dem Putsch von 1980 begann auch eine landesweite Hetzjagd auf Verdächtige.
In der gesamten Türkei würde systematisch gefoltert, am häufigsten jedoch im Kurdengebiet
... Sogar 12jährige Schulkinder wurden verhaftet und geprügelt, um sie zu
Geständnissen zu zwingen. In der Zeit des Putsches wurden insgesamt 650.000 Menschen
festgenommen. Die meisten Verdächtigen wurden entweder geprügelt oder
gefoltert. Mehr als 500 Menschen starben während der Haft infolge der Folter. 85.000
Menschen wurden hauptsächlich im Zusammenhang mit Gesinnungs- oder
Organisationsstraftatbeständen vor Gericht gestellt. In Polizeiakten wurden offiziell
1.683.000 Menschen als Verdächtigte aufgelistet. 348.000 Türken und Kurden wurde
verboten, das Land zu verlassen. 15.509 Menschen verloren aus politischen Gründen
ihre Arbeit. 114.000 Bücher wurden konfisziert und verbrannt. 937 Filme wurden
verboten. 2.729 Schriftsteller, Übersetzer, Journalisten und Schauspieler wurden
vor Gericht gestellt, wegen Meinungsäußerungen.213
Darüber hinaus wurden Gesetze erlassen, die den kulturellen Völkermord an den
Kurden vorantreiben sollten. Mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 2932 im Oktober
1983 wurde die kurdische Sprache verboten. Kurdische Volkslieder durften nur noch auf
türkisch gesungen werden: Regelmäßig wurden exemplarische Strafen gegen Zuwiderhandelnde
verhängt.214 Neugeborene durften, dem Gesetz entsprechend, nur türkische
Namen erhalten. Einige Kinder mit kurdischen Namen mußten sie in türkische umändern.
Die Turkifizierung kurdischer Ortsnamen wurde vorangetrieben. 1986 waren bereits
2.842 von 3.524 Dörfern in Adiyaman, Gaziantep, Urfa, Mardin, Siirt und Diyarbakir
umbenannt worden.215 Sogar ein ehemaliger Abgeordneter und einstiges Mitglied der
Regierung Ecevit, Serafettin Elci, wurde im März 1981 von einem Militärgericht zu
einem Jahr Haftstrafe verurteilt, weil er in einem Interview bekannt hatte, daß es Kurden
in der Türkei gäbe. Ich bin auch Kurde hatte er erklärt.216
Es besteht kein Zweifel, daß sich nach dem Militärputsch vom 12. September 1980
die staatliche Verfolgung in einer Form gegen die Kurden und anderer Gruppen richtete,
die den von Lemkin genannten Kriterien für einen Genozid entspricht: die Zerschlagung
der politischen und sozialen Institutionen, der Kultur, der Sprache, des Nationalgefühls,
der Religion und des Wirtschaftslebens von Volksgruppen, die Vernichtung der persönlichen
Sicherheit, Freiheit, Gesundheit und Würde bis hin zur Tötung der Angehörigen
solcher Gruppen.
38
Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 kultureller Genozid
Auch nach der Rückkehr zu einer normalen demokratischen Zivilregierung wurde die
Gesetzgebung benutzt, um einen kulturellen Völkermord an den Kurden voranzutreiben.
Ragip Duran, Mitglied des redaktionellen Beratungsausschusses der Zeitung Demokrat
und ehemaliger Chefredakteur der verbotenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem,
schrieb: Die Veröffentlichung von Ideen, Erklärungen oder Überzeugungen aus kurdischer
Sicht von Wissenschaftlern, Parteiführern von legalen Parteien oder sogar der PKK
ist durch das Anti-Terror-Gesetz und die Artikel 159 und 132 des türkischen Strafgesetzbuches
verboten worden. Das Verbot hört hier jedoch nicht auf. Nach Ansicht von
Richtern und Staatsanwälten ist jede Erklärung, die darauf hinaus läuft, daß eine friedliche
politische oder demokratische Lösung der Kurdenfrage einer militärischen vorzuziehen
ist, den Anstrengungen im Kampf gegen den Terrorismus abträglich. Demgemäß ist
ein Plädoyer für eine nichtmilitärische Lösung mit einer Straftat gleichzusetzen.217 Eine
Debatte oder Diskussion über den türkischen Staatsterror und den fortdauernden kurdischen
Völkermord wird demnach wie eine Aufforderung zu einem Strafverfahren behandelt.
Das Kurdistan Committee of Kanada beschreibt das de jure und de facto bestehende
System der Leugnung kurdischer Existenz in der Türkei wie folgt:
Aufgrund der [bestehenden] Gesetzgebung in der Türkei ist es verboten, Vereinigungen
zu gründen, die die kurdische Sprache oder Kultur fördern oder verbreiten, daß
Kurden in der Türkei leben und dort eine Minderheit bilden. Vereinigungen, die
solche Ziele verfolgen, können per Gerichtsbeschluß aufgelöst und ihre Mitglieder zu
1-3 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt werden. Darüber hinaus dürfen bereits existierende
Vereinigungen ihre Statuten nicht auf Kurdisch veröffentlichen. Es ist untersagt
kurdische Plakate, Publikationen oder Deklarationen während öffentlicher oder privater
Versammlungen zur Schau zu stellen. Kurden ist es nicht erlaubt, politische Parteien
zu gründen, um ihre Rechte zu verteidigen. Bereits bestehende politische Parteien ...
dürfen sich nicht für die Verteidigung der Rechte des kurdischen Volkes einsetzen. Sie
dürfen nicht die Überzeugung vertreten, daß es ein kurdisches Volk in der Türkei gibt,
das einen Anspruch auf die gleichen kulturellen und nationalen Rechte hat. Es ist
verboten Plakate, Publikationen oder Deklarationen in kurdischer Sprache zu veröffentlichen
...
Durch das Reisepaß-Gesetz Nr. 5682, Artikel 22/1 ist es tausenden kurdischen Intellektuellen
untersagt das Land zu verlassen. Es gibt türkische Verfassungsartikel, in
denen steht, daß Kurden sich nicht in ihrer eigenen Sprache ausdrücken dürfen, weil
dies oder auch die Verbreitung von Gedankengut in der kurdischen Sprache ein Angriff
auf die Einheit des Staates und seine territoriale Integrität bedeuten würde. Derartige
Handlungen werden in der Türkei als Separatismus angesehen ...
Nach dem derzeitigen türkischen Recht ist es der Staatsanwaltschaft und der Polizei
weiterhin erlaubt, kurdische Musikkassetten, Videos und Publikationen zu konfiszieren.
Die Begründung hierfür lautet, daß der Inhalt nicht verständlich sei und daher
illegales Material enthalten könne. Kurden dürfen keine Schulen einrichten oder Kurse
anbieten, in denen Kurdisch gelehrt wird. Das Gesetz Nr. 2923 ist immer noch in
Kraft. Es besagt, daß die Sprache der Kurden nicht Kurdisch sondern Türkisch ist.
39
Kurdisch sei eine Fremdsprache, weil sie in der Türkei nicht gesprochen würde. Durch
das Anti-Terror-Gesetz ist es weiterhin ein Verbrechen, seine Überzeugungen auf friedliche
Weise zum Ausdruck zu bringen. Dieses Gesetz hat zu der täglichen Beschlagnahme
von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und anderen Printmedien geführt. Verlegern,
Redakteuren und Korrespondenten wurde der Prozeß gemacht. Auf Grund
weiterer rechtlicher Beschränkungen ist es verboten, Publikationen über die Kurden
aus dem Ausland zu importieren. Der Ministerrat kann den Import von Publikationen
über die Kurden verbieten, ob deren Inhalt strafbar ist oder nicht.
Darüber hinaus dürfen Kurden in der Türkei keine Bühnenwerke, keine Videokassetten,
keine Musikstücke und keine Filme etc. produzieren. Wenn Produzenten oder Verleger
ein kurdisches Stück herausbringen wollen und beim Kultusministerium um Erlaubnis
fragen, müssen sie mit einer Ablehnung rechnen, weil das fragliche Werk die Integrität
des Staates gefährden würde. Bis heute gab es nur ein einziges kurdisches Werk,
das eine Produktionsgenehmigung erhielt, und das war ein auf Türkisch inszenierter
Film über eine kurdische Sage. Alle anderen kurdischen Werke, die keine Genehmigung
erhalten haben, können auf Anweisung der Polizei beschlagnahmt und vernichtet
werden. Kurden dürfen keine Radio- oder Fernsehstationen für ein kurdisches
Programm einrichten oder kurdische Werke über das türkische Radio oder Fernsehen
übertragen. Darüber hinaus gab es nie Radio- oder Fernsehnachrichten über die Kurden,
die der Wahrheit entsprechen, weil in der Türkei Nachrichten zensiert werden
können, die die territoriale und nationale Integrität des Staates in Gefahr bringen.218
Das Verbot und die Unterdrückung der kurdischen Sprache blieb auch nach der
Aufhebung des Sprachverbotsgesetzes im Jahr 1991 ein fester Bestandteil der staatlichen
Praxis.
Im Januar 1997 kam ein geheimes Memorandum an die Öffentlichkeit, das von Dr. Meral
Aksenir, der türkischen Innenministerin und Vorsitzenden des Krisen-Koordinations-Komitees
unterzeichnet wurde. Es heißt darin:
Das Ergreifen verwaltungsrechtlicher und sonstiger gesetzlicher Maßnahmen gegen
die Verbreitung der kurdischen Sprache, die Gründung von Forschungseinrichtungen
mit dem Ziel, die kurdische Sprache zu einer Wort- und Schriftsprache zu entwickeln,
sowie gegen alle, die versuchen, Ausbildung in Bezug auf Frontaktivitäten und kurdische
Sprach- und Schreibkurse zu betreiben.219
In Umsetzung der zahlreichen präventiven Maßnahmen in Akseners Memorandum
sind Journalisten und sogar die oftmals jugendlichen Handverkäufer von prokurdischen
Zeitungen zur Zielscheibe grausamer physischer Angriffe geworden. Berichten der UK
Parliamentary Human Rights Group und amnesty international zufolge, sind die präventiven
Maßnahmen politisch motivierter Kräfte gegen kurdische Zeitungsverkäufer mit
krankenhausreif schlagen oder Mord gleichzusetzen.220
Extralegale Hinrichtungen, Morde durch Todesschwadronen, Verschwindenlassen
Allein zwischen 1992 und 1994 wurden elf Vertreter der pro-kurdischen Zeitung und
Nachrichtenagentur Özgür Gündem umgebracht.221 Zeitschriftenverkäufer, darunter auch
40
12-jährige, wurden von politisch motivierten oder staatlich unterstützten Elementen der
Konterguerilla der Hizbullah zuzurechnenden Meuchelmördern getötet oder schwer verletzt.
Dabei kamen Schußwaffen, kemikkirans (lange Messer, die in alten Zeiten zum
Kämpfen benutzt wurden)222 und Fleischerbeile zu Einsatz.223 Mit ähnlich, präventiven
Taktiken wurde gegen kurdische Schriftsteller, Journalisten, Gewerkschaftler,
Menschenrechtler, Politiker und Vertretern von Hilfsorganisationen vorgegangen.
Imset zufolge wurden in den vergangenen Jahren mehr als 3.000 politisch motivierte
Angehörige der Kontraguerilla, Boz-Ok (Graue Pfeile) und Killer der Hizbullah gegen
kurdische Aktivsten und Organisatoren eingesetzt.224 Sechzig demokratische und prokurdische
Gewerkschaftler wurden seit 1990 von Todeskommandos ermordet, die in
enger Beziehung zur Regierung standen.225 Insgesamt wurden dreiundzwanzig Journalisten
pro-kurdischer Zeitungen umgebracht.226 Gultan Kisanak, Chefredakteur von
Demokrasi bestätigt: Wir haben Beweise dafür, daß die Sicherheitskräfte in viele Morde
direkt involviert waren.227
Politiker, darunter auch Mehmet Sincar, Abgeordneter der Demokratiepartei (DEP)
und prominente Intellektuelle wie Musa Anter, Gründungsmitglied der Arbeiterpartei
des Volkes (HEP), wurden ermordet. Hunderte Kurden sind dem Verschwindenlassen
zum Opfer gefallen. Auf den Zentralen politischer und kultureller kurdischer Organisationen
wurden Anschläge verübt.228 Am 3. Dezember 1994, lediglich vier Tage nach einem
vertraulichen Rundschreiben, in dem Premierministerin Tansu Çiller die Ministerien angewiesen
hatte, die notwendigen Schritte zu ergreifen, um die Verbreitung von bestimmten
Publikationen einzustellen, besonders die der [pro-kurdischen] Zeitung Özgür Ülke,
wurden die Büros dieser Zeitung in Istanbul und Ankara durch hochexplosive Sprengkörper
größtenteils zerstört. Ein Angestellter kam dabei ums Leben und 19 weitere wurden
verletzt.229
Extralegale Hinrichtungen sind in der Türkei an der Tagesordnung. Der militärische
Geheimdienst verfügt über ein Killerkommando. Der Geheimdienst hat sein eigenes
Killerkommando. Die Gendarmeriekräfte verfügen über eine große Killerkommando-
Organisation in Form einer eigenen Geheimpolizei. Es gibt eine paramilitärische Organisation,
die sich Türkische Vergeltungsorganisation nennt und mit dem militärischen
Geheimdienst in Verbindung steht. Die Hauptaufgaben dieser Organisation
sind Bombenanschläge und Massenmorde. Vor der türkischen Kommunalwahl am 20
März 1993 wurden 325 Kandidaten der Demokratiepartei (DEP) durch die zwielichtigen
Killerkommandos der Vergeltungsorganisation festgenommen. Sie töteten 70
Parteimitglieder, darunter der Abgeordnete Mehmet Sincar. Sie bombardierten 19 Filialen
der DEP. Am 18. Februar 1994 verübten sie Bombenanschläge auf die DEP
Zentrale in Ankara, wobei eine Person getötet und eine weitere verletzt wurde.230
Yasar Kaya, Präsident des Kurdischen Exilparlaments (KPE) berichtet: Die Arbeiterpartei
des Volkes, die Partei für Freiheit und Demokratie (OZDEP) und die Demokratiepartei
(DEP) wurden von der türkischen Regierung verboten. Vier der Parlamentsmitglieder
von DEP sind noch im Gefängnis. Alle leitenden Mitglieder der Volkspartei der
Demokratie (HADEP), der Nachfolgepartei von DEP, sind inhaftiert und warten auf
ihren Prozeß. Auch HADEP ist vom Verbot bedroht. Kurz gesagt, wir Kurden mußten
den höchsten Preis für die Demokratie bezahlen.231
41
Viele, die diesen Anschlägen entkommen konnten, wurden ins Gefängnis gesteckt
oder verbannt.232 Rechtsanwälte im Südosten wurden der Tod angedroht, wenn sie die
Region nicht verließen. Die Polizei setzte zwei Anwälte mit den folgenden Worten unter
Druck: Kommt nicht ... in dieses Gebiet wir wissen, daß ihr diese armenischen Bastarde
schützt. Kommt nicht wieder in dieses Gegend oder wir werden euch vernichten.233
Mehmet Isiklar, Vorstandsmitglied der KESK (Türkische Gewerkschaftsvereinigung Öffentlicher
Dienst) bestätigte: Während der letzten acht Monate hat die Regierung ein
langjährig praktiziertes Sanktionsinstrument verstärkt zum Einsatz gebracht: Strafversetzung
in den Westen der Türkei aufgrund des Ausnahmezustands im Südosten des Landes.
In diesem Jahr wurden bereits sechzig Gewerkschaftler aus Diyarbakir versetzt.234
Politisch motivierte Todeskommandos haben damit begonnen im europäischen Exil
lebende Kurden und Türken zu ermorden. Dazu Alf Lomas, Mitglied des Europaparlaments:
Der Europarat wird die Erklärung von Dogan Güres, dem türkischen Stabschef, zur
Kenntnis nehmen, daß 160 Killer nach Europa geschickt wurden, um kurdische
Aktivisten und ihre Unterstützer zu liquidieren [Bericht in Hürriyet 1994] ... In London
wurde der Versuch, Nafiz Bostanci, den Vorsitzenden des Londoner Halkevi
Community Centre, zu erschießen mit dem Türkischen Geheimdienst (MIT) in Verbindung
gebracht. Wird der Europarat die türkische Regierung davon in Kenntnis
setzen, daß er es nicht tolerieren wird, wenn ausländische Agenten extralegale Hinrichtungen
in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft vornehmen?235
Führende Politiker, der türkische Oberste Richter sowie militärische Regierungsvertreter
haben diese Gewaltakte legitimiert: Premierministerin Çiller hat sich dahingehend
geäußert, daß das Internationale Recht zum Schutz der Minderheiten für die [Kurden]
keine Gültigkeit besitzt. Der Oberste Richter ... teilte mit, daß es völlig legitim sei, wenn
die Regierung eine Strategie verfolge, bei der jeder, der innerhalb oder außerhalb der
Türkei die Haltung des Staates als menschenrechtsfeindlich bezeichnete, nicht mit gesetzlichen
Schutz vor Kontra-Guerillas, Todeskommandos, Gefängnisstrafen oder Polizeikontrollen
und Verhören rechnen könne ... Der Stellvertretende Generalstabschef, General
Ahmet Cörekci, hat in seiner Rede im Juli 1995 verlauten lassen, daß die Sperenzchen, die
im Lande um Menschenrechte und Demokratie gemacht werden, völlig ungerechtfertigt
wären ... es sei unvorstellbar, daß die Armee auch nur einen Gedanken daran verschwenden
würde, den Bürgern das Recht auf kurdische Sprachausbildung und kurdische Fernsehsender
einzuräumen. Ismet Imset, Kolumnist der verbotenen Zeitung Özgür Ülke,
bestätigt, daß diese Ansichten auch denen von Türkes entsprechen, dem verstorbenen
Führer der ultra-rechten Nationalen Aktionspartei. Türkes hatte als er an der Macht war,
offiziell erklärt, daß er nicht davor zurückschrecken würde, Blut zu vergießen, wenn es um
die Verweigerung der sozialen und kulturellen Rechte der Kurden ginge.236
Krieg, Massenvertreibung und Dorfzerstörungen
Seit dem Ausbruch des bewaffneten Konfliktes zwischen staatlichen Sicherheitskräften
und der PKK wurden weitere Maßnahmen ergriffen, um die PKK zu liquidieren, die
kemalistischen Werte des Staates zu verteidigen und den Assimilierungsprozeß voranzu42
treiben. Dazu gehören das milliardenschwere kolonialistische Südostanatolienprojekt (GAP)
der türkischen Behörden und auch das kaspische Ölpipeline-Projekt.
Seit Anfang der 90er Jahre wurde in diesem Konflikt eine Strategie des totalen Krieges
verfolgt.237 Schätzungen der türkischen Regierung und des Militärs zufolge hat der
Staat seit 1984 über 83 Milliarden US-Dollar für diesen Krieg ausgegeben, nur, um eine
militärische Lösung für das Kurdenproblem zu finden.238 Die lukrative Tourismusindustrie
der Türkei hat sich zu einer wichtigen Einnahmequelle für den Krieg entwickelt.239
Zehntausende Kurden fanden in diesem Konflikt den Tod. Hunderttausende Soldaten,
unterstützt von Panzern, Helikoptern, Militärflugzeugen und Panzerwagen kamen
zum Einsatz. Gerger zufolge gab es verschiedene Gründe für die fortdauernde Gewalt
gegen kurdische kulturelle/politische Systeme: Das Regime ist ideologisch so strukturiert,
daß es die Konflikte und das Konzept der Feinde des Vaterlands, benötigt, um die innere
Ordnung zu wahren und den Vorwürfen einer unzufriedenen Masse zuvorzukommen.
Paranoia und Belagerungsängste werden gesät, um Xenophobie ernten zu können.240
In diesem Krieg wurde massiv die natürliche Umwelt zerstört und wieder zu dem
Mittel der Zwangsumsiedlung gegriffen. Türkische Truppen brannten den größten Teil
der kurdischen Waldgebiete nieder und zerstörten ländliche Siedlungen und Kleinstädte.
Yasar Kemal zufolge wurden allein in den letzten zehn Jahren über 12 Millionen Hektar
Wald niedergebrannt, davon allein 10 Millionen Hektar in Ostanatolien (dem kurdischen
Südosten). Es ist absolut unvorstellbar, daß ein Staat absichtlich Wälder niederbrennt.241
Das Magazin Aksiyon spricht von fünf Millionen Menschen, die durch die
Entvölkerungspolitik gewaltsam vertrieben wurden.242 Wie durch die türkische spezielle
Kriegsverordnung und das türkische Regierungsdekret Nr. 285 bekannt wurde, war
diese Entvölkerungspolitik von der Regierung ausdrücklich sanktioniert worden. Die spezielle
Kriegsverordnung, vom 17 September 1985, Die Interne Verbesserungsoperation
genannt, wurde von Hayri Ondul, dem Kommandanten des 7. Generalkorps Regiment,
unterzeichnet. Sie beinhaltet eine Politik der Zwangsumsiedlung, die gegen die Landbevölkerung
gerichtet ist. Mit einer Reihe von Euphemismen werden interne Operationen
beschrieben, die die kurdische Landbevölkerung vor der Infektion durch [PKK] Bazillen
schützen sollen. Sollte [die PKK] einer Gefangennahme entgehen, gibt es noch die Möglichkeit
die Qualität des Wassers zu ändern [was soviel heißt wie die ethnischen Eigenheiten
der Kurden zu ändern sowie die Zusammensetzung der Bevölkerung der Region].243
Darüber hinaus hatte die türkische Regierung per Dekret Nr. 285 vom 10. Juli 1987 ein
regionales Ausnahmezustandsgouvernement eingerichtet sowie einen regionalen
Ausnahmezustandsgouverneur eingesetzt, der sich gegenüber dem Innenministerium verantworten
mußte. Der Regionalgouverneur war auch bevollmächtigt, die [kurdischen]
Siedler zu evakuieren (Artikel 4h). Des weiteren wurde ihm und seinen Weisungsempfängern
Straffreiheit garantiert (Artikel 7).244
Einer Erklärung des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) zufolge, sind die Folgen
dieser Zwangsumsiedlungsmaßnahmen außer Kontrolle geraten. Kurden aller gesellschaftlichen
Klassen wurden evakuiert ... Die kurdische Bevölkerung, die von dieser neuen
Migrationswelle am stärksten betroffenen ist, hat kein Vertrauen in einen Staat, der unterdrückt,
foltert und deportiert. Dies ist sowohl ein kollektives als auch soziales Phänomen.
Der Staat vertreibt die Kurden aus ihren angestammten Gebieten und nimmt ihnen ihr
gesamtes Vermögen. Kurdische Immigranten, deren Familien zerstört wurden und die,
um ihr Leben zu retten, in die Städte geflohen sind, leben dort in Not und Elend. In der
43
Ausnahmezustandsregion wurden nach offiziellen türkischen Angaben 905 Dörfer und
2523 Weiler ganz oder teilweise evakuiert, zerstört und verbrannt.. In den darauffolgenden
Jahren war es ähnlich: 1993 waren es 874 Dörfer; 1994, 2.374 Dörfer und 1995
weitere 95. Dies wurde 1996 mit 2.500 Dörfern noch übertroffen.245 Mr. Cuco, Sonderberichterstatter
der Westeuropäischen Union, hat bei seinem letzten Türkeibesuch folgendes
beobachten können:
Die [Regierungs]politik, die die [kurdische] Bevölkerung aus ihren Bergdörfern und
Weilern zu vertreiben und ihre Behausungen zu zerstören sucht, wird weiterhin betrieben.
Ziel dieser Maßnahmen sei die Umsiedlung der Bergbevölkerung [sic] in kollektive
Dörfer, so der türkische Premierminister. Vom europäischen Siedlungsfonds wurden
der Türkei hierfür 227 Millionen US Dollar bewilligt.246
Dieser destruktive Prozeß dauert weiterhin an. Der türkische Menschenrechtsverein (IHD)
berichtet, daß:
Millionen unter den Folgen der Räumung ihrer Dörfer und den Zwangsvertreibungen
gelitten haben. Sie wurden aus Sicherheitsgründen zur Emigration gezwungen ohne
irgendwelche Zusicherungen. Diese Menschen hatten keine andere Wahl als unter
gesundheitschädigenden Bedingungen in armseligen Wohnverhältnissen in den Städten
der Region oder im Westen zu leben ... Militärs, Spezialeinheiten und Dorfschützer
haben Dörfer unter dem Vorwand räumen lassen, daß sie Operationen gegen die PKK
durchführen müssen. Während dieser Operationen wurden zivile Siedlungen absichtlich
von Luftwaffe und Bodentruppen bombardiert.
Weitere Menschen sahen sich gezwungen ihr Land zu verlassen, weil ihre Lebensgrundlagen
zerstört worden waren ... Das Verbot auf die Sommerweiden zu ziehen,
bedeutet, den Kurden eine wesentliche Lebensgrundlage zu entziehen. Die Menschen
in dieser Region verdienen ihr tägliches Brot durch die Viehzucht. Ein solches Verbot
fügt der Ökonomie in der Region einen unübersehbaren Schaden zu. Das Ergebnis ist,
daß vielen Familien nichts anderes übrig bleibt als auszuwandern.
Durch die Bombardements während der permanenten militärischen Operationen in
der Region, wurde darüber hinaus auch Ackerland zerstört. Die Felder können nicht
bestellt werden, da es gefährlich ist, während der militärischen Operationen auf dem
Lande zu arbeiten. Dorfschützer versuchen den Ertrag in Brand zu setzen, so daß es
keine Ernte gibt. Die Landwirtschaft wurde dadurch praktisch zum Erliegen gebracht.
Es ist eine weitere Art der Zwangsevakuierung. Wir sollten auch das partielle
Nahrungsmittelembargo erwähnen, das die Militärs verhängt haben ...
Die derzeitige Entvölkerungspolitik ... schließt alle kurdischen Siedlungen mit ein; sie hat
die totale Säuberung dieser Region zum Ziel ... die evakuierten Dörfer sollen nicht wieder
besiedelt werden. Der Gemeindebesitz wird zerstört und die evakuierten Einrichtungen
werden niedergebrannt, was ihre Neubesiedlung unmöglich macht. Die umgesiedelten
Bürger erhalten keine staatliche Unterstützung ... Millionen sind gezwungen in den Ghettos
der Großstädte unter gesundheitsschädigenden Umständen zu leben. Zu dieser Politik
gehört auch die Mißhandlung von Zivilisten. Folter, extralegale Hinrichtungen,
Verschwindenlassen in der Untersuchungshaft, sexueller Mißbrauch und Vergewaltigung
sind integrale Bestandteile dieser totalen Entvölkerungspolitik.