Viele angehende Ärztinnen und Ärzte legen zum Ende ihres Studiums/zu Beginn ihres Ärztinnen- bzw Arzt-Daseins das Genfer Gelöbnis ab.
Zitat aus der Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Deklaration_des_Welt%C3%A4rztebundes):
Die Genfer Deklaration (auch als Deklaration von Genf oder Genfer Gelöbnis bezeichnet) wurde im September 1948 auf der 2. Generalversammlung des Weltärztebundes in Genf, Schweiz verabschiedet. Sie soll (auch Serment d’Hippocrate, formule de Genève bzw. The Hippocratic Oath formulated at Geneva genannt) eine zeitgemäße, ohne religiösen Kontext bestehende Version des Eids des Hippokrates darstellen und wurde mehrfach revidiert (1968, 1983, 1994, 2005, 2006 und 2017).
Wer das Genfer Gelöbnis nicht kennt - etwas weiter unten habe ich den Text in der aktuellen Revision von 2017 und in der Revision von 2005 zitiert - diese Texte sind recht kurz.
Meine Fragen an Euch:
Was haltet Ihr vom Genfer Gelöbnis?
Wie ernst ist es zu nehmen wenn eine Ärztin/ein Arzt erwähnt, das Genfer Gelöbnis abgelegt zu haben?
Hat das Genfer Gelöbnis in einer Welt, in der auch das Gesundheitswesen längst dem Raubtier-Kapitalismus anheimgefallen ist, nur ornamentalen Charakter?
Würdet Ihr eine Ärztin/einen Arzt darauf festnageln und darauf pochen, dass sie/er sich an die im Genfer Gelöbnis formulierten Grundsätze hält?
Wie verträgt sich Eurer Meinung nach die Rechtslage in Deutschland mit dem Genfer Gelöbnis?
Eignet sich Eurer Meinung nach das Genfer Gelöbnis als "moralische Berufungsquelle" für das Verabschieden von Gesetzen oder Gesetzesänderungen, zB im Strafgesetzbuch oder im Bürgerlichen Gesetzbuch, die die Rechte und Pflichten von Ärztinnen und Ärzten und/oder das Patient/inn/en-Ärztinnen/Ärzte-Verhältnis betreffen?
Sollte es zB strafbar sein wenn eine Ärztin oder ein Arzt, die/der gegenüber ihren/seinen Patient/inn/en von sich selbst sagt, das Genfer Gelöbnis abgelegt zu haben, sich nicht an die Grundsätze hält, die in derjenigen Revision des Genfer Gelöbnisses formuliert sind, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie/er es abgelegt hat, gültig war?
Das Genfer Gelöbnis wurde (derzeit) das letztemal im Oktober 2017 in der 68. Generalversammlung des Weltärztebundes in Chicago geändert. Die derzeit (=am 10. Oktober 2021) aktuelle Fassung vom Oktober 2017 lautet:
*Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich,
- mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
- Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.
- Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.
- Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.
- Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.
- Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.
- Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.
- Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern.
- Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.
- Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patientin oder des Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen.
- Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.
- Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.
Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.
(Quelle: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/bundersaaerztekammer_deklaration_von_genf_04.pdf)*
Zum Beispiel in der Revision vom Jahr 2005 lautete der Text:
*Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich
- mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
- Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen.
- Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.
- Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.
- Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren.
- Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten.
- Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.
- Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung.
- Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.*
Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.
(Quelle: https://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/3711/pdf/Goedicke_GU_39_06.pdf)
Meine eigenen Gedanken und Fragen zu den Texten:
- Meiner Auffassung nach wurden 2017 ethische Ansprüche reduziert. Neue Formulierungen sind oft nicht wirklich präziser als die alten, sondern gereichen zum Teil eher noch der "Verwässerung" . Durch den Austausch von Worten wie "Gebot" durch "Anliegen" oder "schuldige Achtung" durch "gebührende Achtung" wird der verbindliche Charakter reduziert.
- In der neuen Fassung vom Oktober 2017 fehlen meiner Meinung nach zwei wichtige Aspekte, die in der Fassung von 2005 von mir in fetter Schrift hervorgehoben sind, nämlich "Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein" und "jedem Menschenleben von seinem Beginn an".
- Warum braucht es überhaupt das Wort "feierlich"?
- Der höchste Respekt gilt dem menschlichen Leben. Menschen sollen Ärztinnen und Ärzten also wichtiger sein als andere Lebewesen. Aber warum dabei nicht auch eine generelle Achtung des Lebens fordern, zB "Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, jedes Leben zu achten und mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. ... Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren."?
- Wer legt fest, wem welches Maß an Achtung und Dankbarkeit gebührt?
- Welche abschreckende Vorstellung vom Umgang unter Geschwistern hat die 68. Generalversammlung des Weltärztebundes dazu veralasst, den Satz "Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein" im Prinzip ersatzlos zu streichen? Es ist nett, Kolleginnen und Kollegen die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit zu erweisen, aber "Schwestern und Brüder" geht meinem Verständnis von Geschwisterlichkeit nach weit über "gebührende Achtung und Dankbarkeit" hinaus -- zB in Hinblick darauf, was man voneinander an Geradlinigkeit, Integrität und Sorgfalt verlangen kann, und wie man einander aushilft.
- Warum wurde "Gebote der Menschlichkeit" durch "Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten" ersetzt anstatt darum ergänzt? Ersteres subsummiert viel mehr und "Gebote der Menschlichkeit" setzt auch eine Maxime für die Rechtsgüterabwägung wo es ohne Rechtsgüterabwägung nicht geht. Wenn man schon "Verletzung" in Zusammenhang mit dem (nach Immanuel Kant) a priori gegebenen Begriff "Recht" verwendet, sollte man erstens klarlegen, von welchem Rechtsbegriff man ausgeht, denn da gibt es viele verschiedene Vorstellungen -- zB gehen manche Leute pragmatisch von der Frage nach der Pflichtmäßigkeit/Pflichtwidrigkeit aus; andere zB von einer "durch die Praktische Vernunft gebotenen Ordnung der Beziehungen der Menschen untereinander"; wieder andere berufen sich auf religiöse Dogmatik;etc etc --, und zweitens, was man dabei unter "Verletzung" versteht - auch auf Grundlage geltender Gesetze und somit zwar rechtmäßig erfolgte, aber nicht unbedingt gerechte und bei gesundem Menschenverstand ethisch/moralisch nicht vertretbare Einschränkungen von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten?
- In der neuen Formulierung geht es nicht um die eine Sache, die sich "Pflichten gegenüber dem Patienten" nennt, sondern einerseits um "Pflichten", andererseits um "Erwägungen von Faktoren, die" zwischen diese Pflichten und die Patientin/den Patient "treten können" sofern dieses Dazwischentreten der Erwägungen zugelassen wird. Die Pflicht ist in der neuen Formulierung also vom Patienten "abgekoppelt". Ärztinnen und Ärzte haben nicht nur gegenüber Patientinnen und Patienten Pflichten. Von daher kann diese Abkoppelung gut oder schlecht sein. Aber "(dazwischen) tretende Erwägungen" gefallen mir nicht. Das könnte man zumindest eleganter ausdrücken.
- Beschlussorgan des Weltärztebundes ist die jährliche Generalversammlung, in die Vertreter der nationalen ärztlichen Berufsvereinigungen sowie der assoziierten Mitglieder entsandt werden. Da sitzt also 2017 ein Haufen renommierter Ärztinnen und Ärzte in Chicago und beschliesst mehr oder weniger unter Ausschluss der nicht ärztlich tätigen Menschheit, was beginnende Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich ihrer Einstellung zu ärztlich zu behandelnden Mitmenschen zu geloben haben. Inwieweit ist zB die Würde und Autonomie von Patientinnen und Patienten respektiert wenn die nicht ärztllich tätige Menschheit gar nicht einbezogen wird in derart fundementale, sie massiv mitbetreffende Beschlussbildungsprozesse?
- Wie steht es mit der Autonomie und der Würde von Menschen gegenüber denen Ärztinnen und Ärzte tätig werden, obwohl dies keine Patientinnen/Patienten sind, zB weil es nicht um Behandlung, sondern um Aufklärung geht, zB Aufklärung von Familienangehörigen, die für eine/n der Ihrigen, die/der nicht mehr einwilligungsfähig ist, das Leben und die Gesundheit betreffende Entscheidungen treffen müssen?
- "Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein." Anbetrachts dessen, dass ich oft sehe, dass Patient/inn/en verarscht werden, indem sie betüttelnd aber unsorgfältig abgefertigt werden: Wie ist dieses -äh- Gesundheits- und Wohlergehens-Anliegen, das früher mal ein Gebot war, ins Verhältnis zu setzen zu dem Aspekt "Ehrlichkeit/Wahrhaftigkeit gegenüber dem Patienten bzw gegenüber denen, die für den nicht einwilligungsfähigen Patienten Entscheidungen treffen"? Warum kommt in den ganzen Texten nirgendwo das Wort "Sorgfalt" vor?