Da du scheinbar so viele Pro-Argumente gefunden hast, hier mal ein Contra von mir ;)
Selbstbewusstsein entsteht nicht durch das Abschneiden der Haare. Und du befreist dich auch nicht aus der "Erwartungshaltung der Gesellschaft", indem du genau das Gegenteil tust - letztendlich bestimmt das Bild der Gesellschaft dann immer noch dein Handeln. Da du genau das Gegenteil tust. Was würdest du tun, wenn in weiten Kreisen erwartet werden würde, dass Frauen kurze Haare tragen? Dann müsstest du sie nach deiner Logik lang wachsen lassen. Ob man sich nun anpasst oder rebelliert: Es sind zwei Seiten der selben Medaille.
Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen mit dem Abschneiden von langen Haaren (was letztendlich ein zerstörerischer Akt ist, wie z.B. auch das Fällen eines Baums) ihre Gefühle abtöten. Typisches Beispiel: Die Beziehung geht in die Brüche und man leidet darunter. Was aber vielen nicht bewusst ist, wenn die Gefühle abstumpfen fühlt man sich für den Moment nicht mehr so schlecht. Allerdings hat man aus der Situation nichts gelernt, sich nicht weiterentwickelt... und in der nächsten Beziehung geht dann oft alles von vorne los.
Hast du dir mal richtige Gedanken gemacht, warum für dich das mit den gesellschaftlichen Erwartungen so wichtig ist? Warum hast du dsa Bedürfnis, dagegen zu rebellieren? Je mehr man gegen etwas ankämpft, um so stärker spürt man es in der Regel. Wenn man mal in die Richtung sucht, kann man ganz interessante Dinge über sich selbst erfahren (und oft auch erschreckende Dinge, die man nicht für möglich gehalten hatte oder eigentlich vergessen wollte).
Abgesehen davon glaub ich, dass du das mit den gesellschaftlichen Vorstellungen auch etwas verzerrt wahrnimmst. Es gibt viele Menschen, die kurze Haare toll (und vor allem praktisch) finden.
Ich persönlich mag lange Haare. Völlig unabhängig vom Geschlecht. Die Fähigkeit, sich über lange Zeit hinweg um etwas zu kümmern und es achtungsvoll zu pflegen, kann auch ein bisschen was über den Charakter eines Menschen aussagen. Lange Haare brauchen viel Aufmerksamkeit und gehen schnell kaputt. Hier geht es um Fähigkeiten, die zum Beispiel auch für das Führen einer langfristigen beziehung bzw. das Gründen einer Familie wichtig sind: Die Fähigkeit, langfristig Verantwortung zu übernehmen, insbesondere wenn es um Kinder geht. Und die Fähigkeit, langfristig zu etwas zu stehen, ohne es als Last zu empfinden.
Was dich vielleicht etwas verwundern könnte: Die meisten Menschen mit wirklich langen und gesunden Haaren, die ich gesehen habe, waren bisher männlich. Vielleicht sind die meisten Frauen durch ihre gesellschaftliche Prägung einfach zu sehr darauf fixiert, ihr Aussehen "zu gestalten" und ständig zu verändern, sei es durch Färben (was die Haare kaputt macht) oder neue Frisuren, die die Haare schädigen oder einfach im Abschneiden enden - "lang schneiden" kann man Haare nunmal nicht (abgesehen von Roberto de Niro, falls du den Film "der Sternenwanderer" gesehen hast ;D ). Die längsten Haare, die ich bisher gesehen hab, hatte auch ein Junge (in einer Disco gesehen): Er war ziemlich groß (über 1,80) und hatte kräftige blonde Haare bis zum Boden. Sah wunderschön aus.
Was das Thema gesellschaftliche Erwartungen betrifft: Sicher ist dir auch bewusst, dass sich viele Frauen fast überall am Körper rasieren, bzw. das von ihnen erwartet wird. Warum hast du dich nicht entschieden, da gegen den Trend zu handeln, anstatt deine langen Haare abzuschneiden? Hätte dich das mehr Überwindung gekostet? Vielleicht denkst du jetzt, das wäre ja dann das selbe wie bei deinem Plan mit den kurzen Haaren. Nicht ganz: Die Haare an manchen Körperstellen bzw. deren Entfernen hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit. So erhöht das Rasieren der Achselhaare signifikant das Brustkrebsrisiko (beim Rasieren werden Drüsen gereizt und geschädigt, über die der Körper normalerweise Giftstoffe ausscheidet - und Brustkrebs entsteht meistens in den Lymphknoten zu den Achseln hin). Außerdem manipuliert man dadurch die biologischen Instinkte, die bei der Partnerwahl eine wichtige Rolle spielen. Die Schamhaare wiederum tragen zum Schutz des Körpers vor krankheitserregern bei, wer sich dort rasiert hat nachweislich ein höhres Infektions- und Pilzrisiko im Unterleib, und langfristig auch ein höheres Risiko unfruchtbar zu werden (verursacht durch Krankheitserreger, die leichter in die Gebärmutter eindringen können). Falls du dich jetzt fragst, warum ich das so ausführlich erkläre: Diese Form von "gegen die Norm handeln" hat einen tieferen Sinn. Sie ist nicht einfach nur eine Veränderung, die sich ohne Sinn gegen die Norm bzw. die Gesellschaft richtet. Es muss nicht immer ein gesundheitlicher Sinn sein: Die Weigerung, sich die Beine zu rasieren, kann zum Beispiel auch als Anspruch auf Anerkennung der der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit gesehen werden. Wer eine Frau dafür verachtet, dass sie sich nicht die Beine rasiert, hat ganz eindeutig ein menschenverachtendes Weltbild. Und wenn man sich das wirklich bewusst macht, und selbst an die Menschenwürde glaubt, dann sind Anfeindungen in diese Richtung auch plötzlich gar nicht mehr so verletzend. Man kann sie sogar als etwas Positives sehen: Die Person lässt ihre Maske fallen. Und ist es nicht viel leichter, sich in einer Welt zurechtzufinden, wo man bewusst wahrnehmen kann, wer ein menschenverachtendes Weltbild vertritt und wer ein respektvolles und achtungsvolles Weltbild? In welcher Welt würde man eher einen respektvollen Partner bzw. eine glückliche Beziehung finden? Hinter die Entscheidungen und Werte anderer Menschen sehen zu können, und gleichzeitig sich der eigenen Werte für die man steht bewusst zu sein und konsequent für sie einzustehen, das bedeutet wahres Selbstbewusstsein.
Bei deinem Plan mit den sehr kurzen Haaren sehe ich das Risiko, dass du in eine Art Erwartungshaltung hineinrutschst, dass andere Menschen dich so "akzeptieren" und "annehmen" müssen, weil sie sonst "oberflächlich" oder "respektlos" sind. In einem Punkt gebe ich dir Recht: Es steht niemandem zu, dich für deine Entscheidung zu kritisieren. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Menschen die Nähe zu dir suchen oder dich sympatisch finden müssen. Ein Mensch kann zutiefst respektvoll sein, indem er deine Entscheidung inder Form akzeptiert, dass er nichts näheres dazu sagt, und dir einfach aus dem Weg geht bzw. nicht mehr Kontakt als unbedingt nötig (z.B. auf der Arbeit) haben möchte. Wenn du erwartest, dass sich alle Menschen so wie vorher gegenüber dir positionieren müssen, rutschst du nur in Abhängigkeiten hinein, und am Ende verletzt man sich dadurch nur selbst.
Was nun konkret deine Entscheidung betrifft: Ich werde dir nicht sagen, ob du die Beinahe-Glatze nun machen sollst oder nicht. Du allein musst mit den Konsequenzen leben und du allein trägst die Verantwortung für deine Entscheidungen. Nach dem was du geschrieben hast, geht mir persönlich aber der Gedanken durch den Kopf, dass der größte Verlust (gerechnet in der Zeit, die haare zum Wachsen brauchen) vermutlich schon mit dem Abschneiden der langen Haare entstanden ist und es deshalb keinen großen Unterschied mehr macht, wenn du den Rest auch noch abschneidest. Hätten wir uns persönlich gekannt, würde ich dir momentan vermutlich schon aus dem Weg gehen (was aber in keinster Weise ein Urteil über dich sein soll und lediglich bedeutet, dass ich durch diese Entscheidung in dir Anteile und Gefühle und Denkweisen erkennen konnte, die du konkret in der materiellen Welt umgesetzt hast und von denen ich mich selbst distanzieren möchte.
Und dennoch schreibe ich dir diesen langen Beitrag und versuche, dir einige Dinge zu erklären. Egal wie du dich entscheiden wirst. Denn wie gesagt, aus meiner Sicht ist deine weitreichendste Entscheidung zu dem Thema bereits umgesetzt und nicht mehr rückgängig machbar... das was noch offen ist ist die Frage, welchen Weg du für die Zukunft einschlagen wirst.
Viele Grüße und alles Gute!