Puuh, da wird schon fleißig diskutiert ;) Hier mal mein Blickwinkel (werd aber nicht die Zeit haben, hier im öffentlichen Bereich tiefer drauf einzugehen):
Der erste Schritt ist, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein.
Dazu gehört auch, Klarheit für sich selbst darüber zu finden, in welchem Verhältnis man zu Menschen steht, die diese Grenzen nicht akzeptieren. Damit einher geht die Bereitschaft, sich von diesem Menschen zu distanzieren und die Verantwortlichkeiten klar zu trennen: Es liegt in deiner Verantwortung, die eigenen Grenzen durchzusetzen und dich selbst zu schützen. Und es liegt in der Verantwortung des anderen Menschen, sich selbst zu schützen. Das ist die Kernbedeutung von "Selbst-Bewusstsein": Sich von anderen Menschen und ihren Einflüssen abgrenzen zu können. Sich aus Abhängigkeitsmustern befreien und bewusst entscheiden zu können.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist, deine Grenzen klar und verständlich zu kommunizieren. Du kannst nicht erwarten, dass andere Menschen deine Grenzen "intuitiv" wahrnehmen können. Selbst wenn die andere Person respektvoll und einfühlsam ist. Sie muss ihre Wahrnehmungen immer noch interpretieren, was sehr schwierig sein kann wenn es um die Bedürfnisse und Grenzen anderer Menschen geht. Dazu kommt, dass nicht alle Menschen rücksichtsvoll und einfühlsam sind. Auch und gerade denen muss man klar und deutlich die eigenen Grenzen kommunizieren.
Wenn andere deine Grenzen überschreiten, wirst du auch in Situationen kommen wo es notwendig ist, dass du andere Menschen an einem wunden Punkt berührst (und damit gewissermaßen ihre eigenen "Grenzen" überschreitest, die sie vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein bis in deinen Bereich hin ausgedehnt haben). Es wird nicht immer gehen, ohne den anderen "zu verletzen", um es mal umgangssprachlich auszudrücken. Das ist aber das Wesen von Konflikten, von Angriff (Genzüberschreitung) und Verteidigung. So lange du zu diesem Schritt nicht bereit bist, wirst du deine Grenzen nicht durchsetzen können.
Manche Menschen sind der Ansicht, dass man sich mit jedem "gut verstehen" muss und immer auf andere Menschen Rücksicht nehmen muss. Dabei übergeht man dann die eigenen Grenzen und geht mit sich selbst rücksichtslos um, ohne es zu merken. Man verliert seine Selbstachtung, weil man die Bedürfnisse und Wünsche anderer Personen höher einordnet als die eigenen. Oder man übergeht die Bedürfnisse nahestehender Menschen (z.B. der eigenen Kinder) um die Erwartungen anderer Personen zu erfüllen, bzw. das Eingeständniss, dass es hier einen Konflikt gibt, zu vermeiden.
Das ist übrigens auch das Kernproblem beim Thema "Gutmenschen": Hier geht es darum, dass Konflikte und Widersprüche ignoriert und unter den Teppich gekehrt werden, ob oberflächlich den Anschein von Frieden zu erzeugen. Man glaubt so sehr an das "Gute" im anderen Menschen, dass man blind für sein wahres Wesen wird und dass er vielleicht gar nicht dazu fähig ist, respektvoll zu handeln, weil er selbst verletzt traumatisiert ist. (Und traumatisierten Menschen hilft man definitiv nicht, indem man das eigene Handeln an ihnen bzw. ihren Verdrängungsmechanismen ausrichtet!)
Es kann auch auf die Situationen zutreffen, wo andere Menschen deine Grenzen überschreiten: Es ist nicht gesagt, dass diese dies mit Absicht tun. Vielleicht tun sie es aus einer tiefen Bedürftigkeit heraus (z.B. nach Aufmerksamkeit und Nähe) und suchen unbewusst bei dir die Aufmerksamkeit, die sie früher nicht bekommen haben, aus welchem Grund auch immer. In dem Moment, wo du diesen Menschen Grenzen setzt, werden sie an ihre Vergangenheit erinnert, für die du in der Regel nichts kannst ud für die du nicht verantwortlich bist. Da du aber ein einfühlsamer Mensch bist, spürst du den Schmerz, den diese Personen in dem Moment empfinden. Und hier verschwimmen oft die Wahrnehmungen: Du wertest reflexartig den Schmerz der anderen Person, bzw. das Bedürfnis diesen zu vermeiden, höher als deine eigene Grenze. Du übernimmst plötzlich Verantwortung für den anderen Menschen, und nicht mehr für dich. In dem Moment hast du übrigens dein Selbst-Bewusstsein verloren. Und du richtest dein Handeln an den Verdrängungsmustern der anderen Person aus. Klar sollte auch sein, dass du dieser person damit nicht irgendwie hilfst, etwas zu verarbeiten oder aufzuarbeiten. Du verhinderst lediglich, dass sie mit ihrem eigenen Schmerz und ihrem eigenen Thema konfrontiert wird und es ihr dadurch oberflächlich gesehen für einen Moment "besser" geht.
An diesem Punkt kannst du dir die Frage stellen, was dieses Verhaltensmuster über dich selbst aussagt. Woher du es aus deinem eigenen Leben kennst. Vielleicht in Verbindung mit deinen Eltern und/oder deiner Kindheit. Hast du deinen Eltern emotionale Lasten abgenommen, so dass sie sich dadurch befreiter fühlen konnten? Dann war das vielleicht die Strategie, die du entwickelt hast, um eine tiefere Nähe zu deinen Eltern zu finden. Das mag jetzt alles Spekulation sein, aber solche Gründe und Muster stecken in der Regel dahinter, wenn man nicht dazu fähig ist, sich selbst zu schützen bzw. die eigenen Grenzen durchzusetzen. Und an diesen Themen zu arbeiten kann dabei helfen, die eigenen Grenzen besser durchsetzen zu lernen - und anders herum, wenn man versucht, die eigenen Grenzen besser durchzusetzen, wird man automatisch auf emotionaler Ebene mit diesen Themen konfrontiert. Im Kern geht es hier um einen seelischen Einwiklungsprozess bzw. einen Bewusstwerdungsprozess.
Ich hoffe, mein Beitrag konnte dir ein wenig weiterhelfen. Alles Gute!