Liebe Nicola,
ich arbeite in der Heilerziehungspflege, am Anfang mit schwerstbehinderten Kindern und jetzt mit Erwachsenen. Ich, die nach 8 Stunden die Tür hinter sich zu machen kann, kann sich nicht mal ansatzweise vorstellen was du durchmachen musst.
Es ist nichts verwerfliches zu sagen, ich kann nicht mehr. Es ist nichts schlimmes daran zu sagen, ich brauche Hilfe und es ist ganz und gar nichts schlimmes daran, wenn man sein Kind in solch eine Einrichtung gibt. Du bist Mutter und ich verstehe es vollkommen, wie schwer es ist, sein Kind in fremde Hände zu geben, ABER, jetzt kommt das große ABER, du bist am Ende deiner Kräfte, deiner Möglichkeiten und irgendwann kommt der Punkt, wo du und dein Körper abschaltet. Dann kannst du nichts mehr tun, bist Geistig nicht mal mehr Ansatzweise in der Lage Mutter zu sein und was kommt dann??? Auch wenn du das Gefühl hast, das dein Kind davon nichts mitbekommt, liegst du damit vollkommen falsch. Eines, was ich sehr schnell in der HEP gelernt habe, ist, das die Antennen dieser Menschen so unglaublich fein sind und das sie darauf sehr oft mit aggressionen Reagieren. Das sind erfahrungswerte. Er spürt deinen Zustand, fühlt deine Verzweiflung und was soll er anderes tun, als drastisch zu reagieren weil er damit nich umgehen kann. Unterschätze deinen Sohn da mal nicht.
Ich habe Jahrelang in solch einer Einrichtung gearbeitet und ich kann dir sagen, das diese Kinder aufgelebt sind. Auch wenn du es nicht willst, beschränkst du ihn, weil du nicht weiter weißt und die Bürokratie alles so schwer macht. Ich habe Kinder gesehen, die regelmäßg ihre Zimmer zerlegt haben, die ihre Eltern geschlagen und ihre Geschwister terrorisiert haben. Dann kamen sie zu uns, aus der puren verzweiflung der Eltern heraus, und nach und nach veränderte sich ihr Verhalten. Ein Fall berührt mich noch heute, ich war für sie Zuständig. Das Mädchen kam mit fünf Jahren zu uns. Sie hat bei der Geburt einen Hirnschaden aufgrund von Sauerstoffmangel erlitten und litt dazu noch unter Authismus. Sie hatte immer wieder spastische Anfälle, konnte sich überhaupt nicht mitteilen und nicht essen. Sie wurde über eine Magensonde ernährt, dazu saß sie noch in einem Rollstuhl. Sie hatte überhaupt keinen Schlafrythmus und terrorisierte Nachts die gesamte Familie. Der Vater schlief schon im Keller, damit er am nächsten Tag halbwegs fit zur Arbeit fahren konnte. Ihre beiden Brüder waren schulisch vollkommen eingebrochen und besuchten eine Therapie, da auch sie mit dieser Situation vollkommen überfodert waren und aggressionen gegenüber ihrer Schwester entwickelten. Auch fühlten sie sich alleine gelassen und von der Mutter vollkommen ignnoriert, da ihr Fokus vollkommen auf der Tochter und dem funktioniererenden Tag lag.
Das Mädchen kam also bei uns an und die Eltern schilderten ihr Problem. Die Mutter hat die ganze Zeit nur geweint und sich entschuldigt, weil sie ihr Kind abschiebt. Ich habe ihr damals erklärt, das sie niemanden abschiebt, sondern eine Hilfeleistung in Anspruch nimmt, mehr nicht.
Innerhalb eines Jahres konnte das Kind essen, zwar pürriert, aber sie konnte schlucken. Sie konnte sich durch laute und deutungen mitteilen und zwei Jahre später konnte sie sogar laufen. Ihre aggressionen verschwanden fast ganz, nur manchmal, wenn wir Idioten :-) einfach nach begriffen was sie wollte, bekam sie wieder einen Anfall. Aber mit der Zeit fanden wir einen Weg sie aus dieser Kriese zu holen. Einen Schlafrythmus bekam sie nur teilweise.
Die Eltern erkannten oft ihr eigenes Kind nicht wieder und sie freuten sich jedesmal, wenn sie sie am Wochenende nach Hause holten. Selbst ihre Brüder entwickelten irgendwann so etwas wie eine leibevolle Bindung zu ihr. Ihre Mutter meinte irgendwann einmal zu mir, das sie jetzt endlich wieder Mutter sein kann, das sie ihre Tochter endlich wieder wirklich lieben kann, denn das ging irgendwann, mit all dem Drama, der Erschöpftheit verloren, auch wenn es schwer fällt sich das einzugestehen.
In solchen Einrichtungen haben wir die Möglichkeit solche Kinder, neben der Kita oder Schule, zu fördern und durch Basaletherapien, Ergo usw usw zu fordern und zu fördern. Auch diese Kinder wollen lernen.
Niemand will dir etwas böses, wenn wir sagen, gibg dein Kind weg. Du gibst es doch auch nicht weg oder schiebst es ab. Du gibst dir und ihm dann nur die Möglichkeit wieder etwas zu leben. Du gibst deiner Tochter, die darunter anscheinend unglaublich leidet, wieder die Möglichkeit Kind zu sein.
Manchmal und das meine ich jetzt nicht böse, ist es eine egoistische Entscheidung, sein Kind in solch einer Situation bei sich zu behalten, obwohl alles andere um einen herum zusammen bricht. Es gibt nicht nur dich und deinen Sohn, da ist auch noch eine Tochter, die dich auch braucht und egal was du tust, du bist nicht genügend für sie da, denn entweder bist du mit dem Kleinen beschäftigt, oder zu müde.
Du hörst nicht auf Mutter zu sein, das wirst du nie, aber du hast wieder die Möglichkeit wieder etwas zu leben.
Bitte, ich flehe dich an, zieh es in betracht, lass dir helfen, denn wenn du irgendwann einmal zusammen brichst, etwas aus einem erschöpften Impuls heraus tust, was vollkommen falsch ist, wird das Jugendamt entscheiden was mit deinem Sohn passieren soll und dann auch mit deiner Tochter. Dann entscheiden sie wohin er muss und jetzt kannst du dich noch entscheiden, es aussuchen. Diese Fälle hatten wir auch und es ist für alle beteiligten immer unglaublich schrecklich wenn es soweit kommt.
Perfekt sein wollen, gerade in solchen Situationen, ist der vollkommen falsche Ansatz. Und wenn du dich dafür entscheiden solltest und irgend so ein Idiot sagt, das du eine schlechte Mutter deswegen bist, dann frag ihn mal, wo er war als du Hilfe gebraucht hast. Darauf wissen sie nie etwas zu sagen.
Ich drücke dir ganz fest die Daumen.
LG
E.L.