Sofern noch aktuell
Hallo Cake
Dein Bericht hat mich sehr berührt, weil ich einiges von dem was Du hier berichtet hast aus ähnlicher Erfahrung kenne.
Also so von wegen super-scheiß Kindheit, deren Dimensionen mir viel zu lange nicht bewusst waren.
Erst Mitte 45 Jahren, nach Heirat und abgeschlossenen Hausbau. also eigentlich zu einer Zeit, in der ich endlich in meinem Leben zur Ruhe kam, stolperte ich eines Abends zufällig über einen Ai-Bericht, in dem ich mich von einem Augenblick zum anderen als frühkindliches Gewaltopfer wiederentdeckte.
Damit begann augenblicklich ein unglaublich zäher und über Jahre hinweg andauernder Aufarbeitungsprozess.
In dessen Anfangszeit ich genau so ähnliche Symptome entwickelte, wie Du sie zuletzt von Deinem Mann beschrieben hast.
Also auch extrem gereizt und launisch. Überschäumende Wut wechselte sich mit tiefsten Depressionen ab.
Im Gegensatz zu Dir verstand meine Frau anfangs noch nicht so richtig, wie schlimm diese Phase eigentlich war.
Zu dieser Zeit konnte ich kaum noch Berührungen ertragen, selbst nicht von meinen Kindern.
Wollte am liebsten einfach nur allein sein.
Selbst therapeutischer Hilfe war ich nicht wirklich zugänglich.
Hab zwar tatsächlich drei Anläufe probiert, doch war ich einfach zu misstrauisch und wütend, dass ich mich in einem normal gesetzten Alter einer für mich extrem beschämenden Zäsur aussetzen sollte, die eben in erster Linie mein desaströses Elternhaus zu verantworten hatte und nicht ich.
Habe nie eine professionelle Therapie gemacht und denke, dass ich sie inzwischen auch nicht mehr benötige, weil ich nach einiger Zeit in anonymen Foren all meinen erlebten Scheiß zur Sprache bringen konnte und mehrheitlich von gleichfalls Gewaltbetroffenen verständnisvoll aufgefangen wurde.
Wie gesagt, ein Prozess, der sich über bestimmt 5 Jahre und länger hinwegzog, um nun, nachdem ich zu einem völlig neuem Selbstbewusstsein gefunden habe, auch anderen Betroffenen mitteilen kann, dass so wie sie wie in Deines Mannes Fall, völlig normal reagieren.
Geradezu überlebenswichtig scheint mir in der heutigen Rückschau das anhaltende Gespräch mit Dir und anderen Betroffenen zu bleiben
Und zwar so lange, bis es Deinem Mann fast über ist, sich noch weiter mit dem leidigen Thema auseinanderzusetzen.
Denn meiner Überzeugung nach, wird es naturgemäß niemals gelingen, die einstigen Erlebnisse einfach zu vergessen, aber je öfter sich Betroffene immer und immer wieder mit ihrem Thema beschäftigen, verlieren die einst scham- und angstbesetzen Bilder ihre Schrecken. Man lernt quasi sie als Bestandteil der eigenen Biografie anzunehmen, ohne deshalb immer wieder das seelische Gleichgewicht zu verlieren.
Nichts anderes passiert in einer Therapie. Da geht es ja oft erst einmal darum, die Betrachtung des einst erlebten zuzulassen und zu ertragen, wie auch die daraus resultierenden Verhaltensauffälligkeiten als natürliche Reaktionen anzunehmen.
Wenn es dann im weiteren Verlauf der intensiven Auseinandersetzungen gelingt, die Gefühle der Angst und Scham den einstigen Verursachern zuzuschreiben, statt sich selbst mit Schuldzuweisungen zu kasteien, dann ist schon eine ganze Menge erreicht, um noch zu einem positiven Lebensgefühl zurückzufinden.
In der gegenwärtigen Akutphase würde ich Betroffenen nahe legen, so oft wie möglich mit vertrauten Personen wie Dir über alles zu sprechen, was sie bewegt.
Manches ist verständlicherweise so schmerzhaft, dass Dein Mann nicht einmal mit Dir darüber sprechen kann, weil er sich Dir gegenüber so extrem verletzlich fühlen wird, was so gar nicht in sein archaisches Weltbild eines gestanden Mannes passen wird.
Daher würde ich auch ihm/Euch den Rat geben, manche Gedanken in anonymen Foren aufzubereiten.
Parallel dazu kann er ja gern auch professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Und ja, hilfreich ist auch alles erlebte aufzuschreiben.
Denn damit kann er jederzeit zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen zurückkehren, sich ihrer versichern, die er wohl auch zu lange Zeit verdrängen konnte/musste.
Wie gesagt dient die intensive Thematisierung einfach dazu, die Schrecken der Bilder zu verringern, oder gar völlig abzubauen.
Für Dich wird dieser begleitende Aufarbeitungsprozess gleichfalls eine extrem strapaziöse Zeit bleiben und kann Dir nur dringendst empfehlen gleichfalls intensive Gespräche mit Bekannten oder in Foren über Dein Gefühlschaos zu führen.
Woran einmal mehr ersichtlich wird, wie weitreichend die Folgen eines gewalttätigen Elternhauses nicht nur die direkt Betroffenen zeitlebens belasten, sondern uns auch gesamtgesellschaftlich enormst schaden.
Für mich Grund, um mich heute für tiefgreifende Bildungsrefomen einzusetzen, damit junge Menschen sich endlich ihrer selbst und ihrer Bedürfnisse bewusst werden.
Denn ein zufriedener Mensch wird es kaum mehr nötig haben, seinen Frust ungehemmt an wehrlosen Kindern abzureagieren.
Aufklärende Bewusstheit ist da der erste Schritt zu einer positiven Veränderung.
In diesem Sinne wünsche ich Dir, Deinem Mann und Deinen Kindern allen Erfolg und Unterstützung, um wieder zu einem harmonischem Ganzen zusammenzuwachsen.
Liebe Grüße :-)