Bewältigung
Deine Freundin hat Recht, du mußt mit anderen darüber sprechen, viele deiner Reaktionen können Menschen, die diesen Hintergrund nicht haben, einfach nicht nachvollzogen werden.
Daß deine Erinnerungen hoch kommen zeigt vor allem eines: du bist jetzt stark genug und in einer Beziehung, die dir genug Sicherheit vermittelt, so daß deine Seele jetzt das "Risiko", deine Ängste und deine Verlassenheit und auch den Verrat deines Bruders - eines geliebten Menschen - hochzuholen. Sieh das als Signal, daß du stark bist, ok? Deine Psyche wird dir nichts zumuten, was du nicht auch bewältigen kannst, das mach dir immer klar, besonders dann wenn es Zeiten gibt, wo du glaubst, vor Wut und Verzweiflung nicht mehr zu können.
Was eine Aufarbeitung mit psychotherapeutischer Hilfe angeht: niemand wird sofort mit Tabletten vollgestopft, niemand kann dich überhaupt zwingen, irgendwelche Medikamente zu nehmen, das obliegt ganz allein deiner eigenen Entscheidung. Das merke dir unbedingt!
Ich selbst habe über viele Jahre mal mehr, mal weniger "gute" Therapien gemacht, habe mich immer geweigert, Psychopharmaka zu nehmen, obwohl mir das verschiedentlich als "Therapieverweigerung" ausgelegt wurde, und ich bin heute froh diesen Weg gegangen zu sein. Welche Art von therapeutischer Hilfe für dich die geeignete ist sehe ich als eigentlich schwierige Aufgabe, es gibt etliche Fachrichtungen, die jede für sich gut arbeiten, entscheidend ist also nicht so sehr ob "gut" oder "schlecht", sondern: fühlt sich für DICH gut an oder fühlt sich für DICH irgendwie nicht richtig an.
Was dein Lesbisch-Sein angeht: ich habe mich viele Jahre als Lesbe verstanden, mittlerweile bin ich verheiratet und empfinde mich als Bisexuell. Meine Neigung zu Frauen hat sich nicht verändert, lediglich der "blinde Fleck Mann" ist mittlerweile in meiner Gefühlswelt wahrnehmbar geworden. Wenn du dich als lesbisch empfindest, dann bist du es - dazu brauchst du keine "Negativmotivation" - du liebst, und das ist schön, wunderbar und sehr viel mehr, als ich in deinem Alter konnte. Eine gute Basis, den "bösen Bruder" loszuwerden, je nachdem wie zuerst du, später evtl. auch deine Familie, diese Sache bewältigen könnt - das Tempo und die Art wird IMMER in deiner Hand liegen! - wird vielleicht irgendwann der "gute" Bruder - übrigbleiben. Darüber würde ich mir zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nicht die größten Sorgen machen, du hast alles Recht der Welt, ihn zu hassen, ihn anzuschreien, ihm Vorwürfe zu machen und deine Tränen zu zeigen - "ihm" - diesem Bruder, der er früher war. Sei das in der Therapie im Rollenspiel, sei das gegenüber seinen Fotos oder Bildern, die du malst. Der Bruder, der heute lebt, muß davon so lange nichts mitkriegen, bis du selbst irgendwann entscheiden kannst, ob du ihn damit konfrontieren willst oder ihn innerlich loslassen kannst. Du allein darfst entscheiden - und das ist es, was du letzten Endes in einer Therapie lernen kannst: das kleine, wehrlose Mädchen, das jetzt immer wieder in Konfliktsituationen "herauskommt", darf jetzt wachsen und stark werden.
Zur Therapie: nächste, sinnvolle Anlaufadresse wären Beratungsstellen wie "Wildwasser", das es in vielen Städten gibt, in München gibt es ein sehr gutes, großes Netzwerk "Frauentherapiezentrum", falls du dort leben solltest, ansonsten versuche über google geeignete Therapieadressen herauszufinden. Mir haben letzten Endes die Therapien mit Schwerpunkt Traumatherapie am besten geholfen.
Ich wünsch dir viel Kraft, du scheinst eine starke junge Frau zu sein. :)