Über 250 Reaktionen und kein Ende in Sicht. Loisl's Story "Online-Chats sind eine Krankheit schlug ein wie eine Stinkbombe ... selbst in diversen anderen Foren muffelte und stänkerte man vor sich hin. Getroffene Hunde bellen, sagte meine Oma schon. Aber wie geht es tatsächlich hinter den Login-Aufforderungen all jener Communities vor sich? Welch psychische Qualen muss ein Chatter durchleiden, seinen Status erkämpfen?
Ein Insider packt aus.
Drei Jahre in einer - mehr oder minder - bekannten Community hinterlassen ihre Spuren. Tiefe Augenringe, zittrige Hände, Martina K. (Name von der Red. geändert) sieht nicht gut aus, als sie den Raum betritt.
Ihr starrer Blick richtet sich gleich auf den PC meiner Sekretärin und wird erst unterbrochen, als die Kaffeemaschine die letzten Tropfen in die Kanne spuckt.
"Schwarz mit 2 Würfeln Zucker bitte."
Ehe ich fragen konnte, war sie dann auch schon in meinem Büro verschwunden. Ich nickte meiner Sekretärin noch schnell zu und betrat nach Frau K. das Zimmer. Die Vorhänge hatte ich schon vorher zugezogen, da sie mir am Telefon berichtet hatte, sie reagiere empfindlich auf Tageslicht.
"Haben Sie gut hergefunden?" versuchte ich belanglos das Gespräch zu beginnen.
"Ein Freund hat mich gefahren"
"Er hätte auch gerne reinkommen können und ..."
" Nein, er ist ein wenig ängstlich bei Leuten, die er nicht kennt."
"Ah, auch ein..."
"Ja, ein Chatter."
Somit waren wir auch schon beim Thema.
Martina K. schien das Wort 'Chatter' nicht sonderlich zu gefallen, aber darum war sie ja nun hier.
"Haben Sie viele Freunde im Chat?"
fragte ich jetzt ein wenig direkter. Schließlich hatte schon die Dämmerung eingesetzt und ich wollte irgendwann Feierabend machen.
"Über die Jahre sammelt man sich seinen festen Freundeskreis. Einige kommen und gehen, so eine Gemeinde erfährt schließlich ein hohes Maß an Fluktuation und die Geburtenrate ist enorm gestiegen."
Gemeinde, Geburtenrate. Chatter scheinen sich ihre eigene kleine Welt zu schaffen.
"Stört es Sie, wenn ich..."
" Schreiben Sie ruhig mit. Es wird Zeit, dass ich mir mal Luft mache und die Welt etwas von dem erfährt, was einem erwartet, wenn man sich auf so einen ursprünglich-gedachten Zeitvertreib einlässt."
Meine Sekretärin mit dem Kaffee trat ein und Martina K. griff gleich nach der Tasse, als ob sie nur darauf gewartet hatte.
"Neue Leute kennenlernen? Hm, muss ich nicht haben. Chatmüdigkeit und das Wissen ob des Wahnsinns, das in jedem von denen schlummert könnten der Grund sein.
Außerdem: Man hat in all der Zeit einfach schon alles gefühlt - Man hatte das Kribbeln im Bauch, war @!#$ eifersüchtig weil bei /w Herzblatt immer 4 Sekunden still steht, obwohl die letzte Antwort an einen selbst mindestens 20 Sekunden her ist; man hat sich in Ausreden gewunden, warum man jemanden nach einem Date nun doch nicht wie erst versprochen MINDESTENS heiraten will. Morddrohungen, üble Nachrede, Übergriffe ins reale Dasein, vom Kinderkriegen bis hin zum Jobverlust.
Aber aus dem Nähkästchen plaudere ich nur gegen angemessene Entlohnung."
"Auf Details können wir bei Gelegenheit eingehen. Sie meinten, dass Sie zwischendurch eine Chat-Pause einlegten?"
"Nach all dieser aufregenden Zeit beginnt nach künstlicher oder natürlicher Chatabstinenz der Kampf mit den neuen Chattern und man kommt zu folgendem Schluß: Es kommen nur noch Idioten in den Chat. Ich denke nicht, dass die Anzahl der Deppen steigt - man selbst wird immer anspruchsvoller, gelangweilter, chaterfahrener und boshafter. Hat man vorher auf eindeutige Angebote erschüttert gemurmelt Für was hältst Du mich?!?!?! reagiert man jetzt gar nicht mehr oder mit einem charmanten @!#$ Dich ins Knie, @!#$.
Unbeholfene his und hallos werden auch niedergebügelt - und da triffts dann gelegentlich doch auch den einen oder anderen liebenswerten Geist, der dann möglicherweise erst ganz frisch dabei ist und daraufhin völlig frustriert und demoralisiert wieder von dannen zieht.
Man selbst beschränkt sich dabei auf die Kontaktpflege derer die man bereits kennt und hat halbherzigen Spaß am Lästern und Analysieren von Gerüchten - oder an den melancholischen Schüben Früher war alles ganz anders."
"Erzählen Sie doch mal von den Anfängen... wie wird man denn ein sogenannter 'Stammchatter'?"
"Ich denke, es gibt ein paar Stationen im Leben eines Stammchatters. Meine Definition eines Stammchatters: jemand der regelmäßigen Kontakt zu anderen regelmäßigen Chattern hält, hierbei einen Bekanntheitsgrad zwischen 1 und 3 erlangt (auf der Skala von 1-7). Weiterhin einen SMS-Anschlag von 80 Zeichen/Minute schafft, mindestens 5 Nebennicks pflegt von denen 2 Nicks ebenfalls allen bekannt sind, mit mindestens einem anderen Chatter im Bett war und im Schnitt zu 4 Gerüchten pro Monat was besteuern kann...
Zu allererst kämpft man um Anerkennung, Beachtung und den Wiedererkennungswert im Chat. Das Problem der Nickwahl spielt keine große Rolle mehr ? die guten Nicks sind ohnehin seit Jahren weg und das wissen alle. Ist man ein offener Mensch wird es unweigerlich zu diversen Freiflügen durch Gottes- oder Minister-Macht kommen ? als Neuer hat man keinen anderen Stammchatter einfach so anzusprechen. Wird man nicht ignoriert, wird man Opfer des Rudelverhaltens: unbedarft spricht man natürlich denjenigen an, der scheinbar am meisten zu sagen hat (Alphachatter). Dieser Fehler führt in der Regel zu unergründlichen und geistlosen Attacken des Alpha-Gefolges.
Hier könnte man sich bereits den zweiten Nick besorgen, aber hartnäckige erzwingen eine zweite Chance. Als stiller Zuhörer hat mans da besser, auch wenn man noch mehr Zeit (und u.U. noch mehr Geld) investieren muss. So erkennt man doch relativ schnell, dass auch die Alphatierchen nur mit Wasser kochen. Die meisten buhlen hauptsächlich um die Gunst der Mitchatter. Man muss auf sich aufmerksam machen - egal wie: sei es durch lautes Schreien diverser Nicks (am besten ist man wird beim Betreten des Raumes selbst angeschrien) oder wahlloses Rumknuddeln, Knusseln, Knutschen.) Hier könnte ein Hinweis auf den Verfall der deutschen Sprache zu finden sein; das Verkommen der eigenen Grammatik und Rechtschreibung, aber nicht an dieser Stelle...
Bei Abwesenheiten von über 5 Sekunden wird exakt darauf geachtet, daß alle anwesenden Chatter davon informiert sind, dass man wieder available ist - dies passiert durch Re oder Rö, back again, wieder da etc. (Modifikationen äußerst phantasievoller Chatter: Rehe, Hirsche, Gnus) Hier könnte ein erster Hinweis auf verborgenen Irrsinn und stupiden Witz einiger zu finden sein, aber das ignoriert man im ersten Überschwang.
Bei Abwesenheiten von über 1 Minute ist eine Wiederholung der Begrüßungszeremonie in jedem Fall von Vorteil. So macht man ganz nebenbei auch neuen unbekannten Chattern deutlich "man ist wer". So lässt man sich von Hinz und Kunz ein Gespräch aufschwatzen, in der Hoffnung endlich mal mit der scheinbaren Elite in Kontakt zu kommen. Aber da gabs immer nur das übliche: Woher? Wie alt? Bock auf Chat? Du Bett?
Und an einem unheilschwangeren Tag in diesen 4 Wochen ist es dann soweit ? ein Mitglied der Führerschaft schmunzelt über einen Deiner Witze. Alle Blicke auf Dich. Eine nachgeschobene Phrase, die dieses Mitglied besonders gerne hat, überzeugt ebenfalls und das erste mal wird Dein Gästebuch in Augenschein genommen. Geschafft. Fuß in der Tür. Du wurdest wahrgenommen und bist fast anerkanntes Mitglied. Stammchatteranwärter auf dem Weg zur Erleuchtung irgendeiner Wahrhaftigkeit. Geniesse diese Augenblicke, denn das Grauen hat erst begonnen... kann ich hier rauchen?"
Ich stellte ihr meinen überfüllten Aschenbecher hin, welcher ihr das erste Lächeln auf das Gesicht zauberte.
" Irgendwie heimisch."
Ich runzelte die Stirn und sagte ihr, dass sie weiter erzählen solle.
"Die ersten Kontakte wären also geknüpft und der eigentliche Chat-Rausch kann beginnen. . Je nachdem auf wen man trifft, erfährt man so allerlei über Pärchenbildung (wie kann man nur?!?!? Eine/r aus dem Chat? Die sind doch nicht ganz dicht!), wird über die Vorzüge der einzelnen ChatterInnen informiert oder man wird sanft an das alles überlagernde Thema "VIPs" herangeführt. Bevor man in die gleiche Kerbe schlägt und die Freundesliste aus allen Nähten platzt, ist Priorität auf die Gestaltung des Gästebuchs, bzw. Profils zu setzen.
Das Gästebuch wird hierbei zu einer kleinen Bühne: ?'So will ich sein, das spiel ich hier und so seht mich an!'
Aber was ist denn nun die effizienteste Selbstvermarktungsstrategie? Gleich vorab die Zielgruppe definieren in dem ich alles Interessante über mich preisgebe? Alter, Wohnort, sexuelle Vorlieben, Musikgeschmack, Gruppenzugehörigkeit (Kiffer, Autofreak, Fußballfan, Langweiler, militante Frauenbewegungen) Lieblingsgericht? Zwingend sind Anti-Rassisten-Parolen, außerdem sollte man schwören, dass man Lügner, Proleten und dilettantische Menschen hasst und dieses populäre Profil ist abgerundet. Bebilderung? Vielleicht ein animierter Diddl oder eine halbnackte wohlproportionierte Louis Rojo-Amazone, die einem roten Drachen ihr blauleuchtendes Executioner-Sword ins Auge sticht und die 2-Meter-Zunge eines Dämonen wiederum in ihr steckt.
Oder gebe ich mich höchst egozentrisch und zeige allen, dass ich weder einsam noch depressiv bin, mein Leben nicht stereotyp ist und ich ohnehin nur aus Versehen im Chat bin. Ab zum Fachmann und ein Fotoshooting organisieren, den schwarz-weißen Schmeichler einscannen, hochladen und entsprechend signieren: einen Sokrates, einen Plato, die Lieblings-Band (oder Autor) die sonst keiner kennt und vier bis fünf Fremdwörter in Reihe; das Verachten von aktuellen Trends ist obligatorisch (z.B. die derzeit beliebteste Fernsehserie). Vielleicht eine Mischung aus beidem. Oder das Gästebuch ganz leer lassen? DAS wäre sehr verwegen und fast ein bisschen ignorant. Wir sind ja so crazy.
Jedenfalls kann die Erstellung eines perfekt aufgebauten Gästebuches Stunden in Anspruch nehmen; hat man ein ansprechendes Portrait auf Lager, geht"s natürlich schneller, man kann auf großartige Charakteristika verzichten. Hat man keins, muss man sein aussergewöhnliches ICH in ausgefeilte und spitzfindige Vokabeln packen - Humor und Aussagekraft oder wieder für die Mutigen die blanke Wahrheit. Wie wäre es denn mal mit: "bin so breit wie hoch und suche endlich einen Partner, der mich so liebt wie ich bin" oder "lese keine Bücher nur die BILD, suche liebevolle Hausfrau oder ... - und wer zur Hölle ist Plato?
Faustregel: erspare allen "bin nett und liebenswürdig", das kannst Du Dir als VIP erlauben, aber nicht als Non-Status-Chatter: je zickiger und bösartiger, desto besser; schließlich geben wir uns nicht kampflos... hin.. oder auf...
Das Markenzeichen der diabolischen Großen: Provokation wo keine Notwendigkeit besteht, naives zur Schau stellen von vermeintlichem Hintergrund und Eloquenz.
Die Versuche andere auf die Palme zu bringen mit Dummdreist und den verkrampften Versuchen gemein, bissig, spritzig und schlagfertig zu sein."
Martina K. sprang plötzlich auf und holte sich den nächsten Kaffee. Dann erzählte sie weiter:
"Mittlerweile ist also die erste Hürde überwunden und der nächste Level rückt in greifbare Nähe: Superuser-Anwärter (diesen Ausdruck gibt es tatsächlich, ebenso wie Minister-Anwärter). Als Superuser wird man fett geschrieben und -ist man weiblich- verehrt (ausser natürlich von den Rebellen, aber die sind ja eh nur neidisch). Man hat die Macht und alles gehorcht aufs Wort, alles lacht über Deine Witze, jeder grüsst, viele lästern, Futterneider gucken auf Deine Reaktionsschnelligkeit und Militante lauern auf Fehlentscheidungen. Wie auch immer, man ist im Gespräch und alleine darauf kommts schließlich an.
Hat man kein Interesse daran, mit 120er Puls am Rechner zu sitzen, ständig alle Superuser-Befehle griffbereit zu haben und liebt es außerdem während dem Chatten Harald Schmidt zu gucken, kann man sich darauf trainieren diese Superuser zur Weissglut zu treiben. Am einfachsten funktioniert das, indem man stört, andere beleidigt oder unaufhörlich nach willigen Frauen oder Männern sucht - auch so schafft man sich einen festen Platz in der Gemeinde.
Um seinen Bekanntheitsgrad (ohne SU oder VIP Status) zu halten und das Ansehen zu steigern, ist es am förderlichsten (und mittlerweile auch am modernsten), sich alle gängigen Emanzensprüche in Wordpad zu kopieren (alternativ natürlich machoides Gedankengut) und in regelmäßigen Abständen eine dieser Weisheiten zum Besten zu geben. Frauen, wie auch Männer (Mädchen und Jungs) fahren auf diese Form der gespielten Verachtung total ab. Es macht interessant und gaukelt eine gewisse Unnahbarkeit vor. Sie werden das Bedürfnis haben, Dich Macho oder Zicke zu umwerben und von Dir beachtet zu werden.
Mit dieser Färbung gilt man oft als attraktiv (Synonyme: Stück, Babe). Das Volk wird einen lieben und man kann seine Fans in höchste Verzückung versetzen, in dem man sie öffentlich (!) doppeldeutig und höchst intim begrüsst. Diese Zecken profitieren wiederum von Deiner Beliebtheit, indem sie von anderen bestaunt werden, daß sie mit Dir klar kommen. Man darf überhaupt alles, schließlich wagt es keiner so einer eloquenten Intelligenzbestie Paroli zu bieten.
Dieses Vorgehen kann sich jeder, auch weniger schöne Mensch erlauben, selbst wenn man vorhat auf eines der Chattertreffen zu fahren und sich zu zeigen; hat man sich erstmal verbal schön gemacht, bleibt dieser Eindruck eine gewisse Zeit erhalten. Egal wie mans anstellt - irgendwann ist bestimmt jemand dabei, der alle Show oder Natürlichkeit durchschaut und ebenfalls so ganz anders (oder ganz normal) ist und das erste Kribbeln setzt ein... ( ich spreche hier vom ersten In-Eine/n-ChatterIn-Verliebtsein und nicht von den folgenden Verabredungen, die nach der ersten verkorksten Chatbeziehung stattfinden! ) Herzklopfen, 14h am Rechner, 8-Stunden Telefonate.
In einem kämpft Vernunft gegen Herzflattern - ein Chatter/eine Chatterin, nein das darf nicht sein, wie erkläre ich das meiner Mutter. Man denkt an nichts anderes und besitzt man ein Handy (in 98 von 100 Fällen, sonst wäre man ja nur schwer Stammchatter geworden), werden täglich an die 50 SMS rausgeschossen... der Wunsch keimt auf, die Distanz zu mindern und endlich greift man zum Telefon..."
Das Klingeln der Uhr unterbrach.
"Frau K., es hat mich gefreut, aber die Stunde ist leider um. Es würde ich freuen, Sie nächste Woche wieder begrüßen zu können... um die gleiche Zeit? Dann unterhalten wir uns darüber, was passiert, wenn sich plötzlich zwei Chatter gegenüberstehen..."
"Sehr gerne."