Was soll freier Wille überhaupt sein?
Selbst ohne Neurobiologie erschließt sich mir der Sinn nicht. Worin soll die Freiheit bestehen?
Fall 1: Wir haben genetische Veranlagungen wie z.B. den Grad an Neugierde, den Grad an Vorsichtigkeit usw.
Dies sind die ersten groben Wahrnehmungs- und Verhaltensfilter, die sich auf die Erfahrungen auswirken, die wir machen.
Die Erfahrungen wiederum komplettieren und schleifen unsere Persönlichkeit.
Wenn wir also handeln, weil wir sind, wie wir sind, dann ist der Wille ohnehin schon determiniert, aber durch UNS, was wiederum das Individuum, die Person ins Zentrum des Handelns rückt.
Keine Freiheit im Sinne von "man hätte sich in Situation X genau so gut anders verhalten können", aber der Wille ist durch unser Wesen determiniert und nicht etwa von außen gesetzt.
Fall 2: Unser Wille ist nicht determiniert, hat dann aber auch nichts mehr mit der Person zu tun. Frage also: Wer besitzt dann die Willensfreiheit? Ist ein Zufallsgenerator etwa "frei"?
Kurz: Ich habe schon mit dem Begriff an sich ein Problem.
Aber tatsächlich kam die große Kränkung unseres Egos ja dadurch, dass das Verhalten schon vorbereitet ist, bevor wir uns eines Verhaltenswunsches bewusst sind.
Das, was wir also als "Ich" wahrnehmen ist eigentlich eher ein Beobachter als ein Herrscher. Das tut weh. Nicht allen, aber vielen Menschen.
Es macht aber Sinn, dass eine zusammenhängende Simulation der Welt samt Projektion des Selbst in diese auf einer höheren Verarbeitungsstufe geschieht und dass Bewusstsein auf dieser Zusammenführung der ganzen Umwelt- und Innen-Daten statt findet und nicht auf Ebene von "Sehstäbchen Nr. 15720789 in der Retina des rechten Auges meldet "GRÜN!""
Die allermeisten Handlungen folgen erlernten Mustern, die ein Verständnis des großen Ganzen nicht benötigen. Es wäre Ressourcenverschwendung und verlorene Reaktionszeit, die Handlungplanung auf der höchsten Stufe der Abstraktionsfähigkeit anzusiedeln.
Nur, wenn erlernte Muster keinen Erfolg mehr versprechen, ist eine Handlungsplanung von ganz oben in der Abstraktions-Hierarchie sinnvoll.
Da unser Bewusstsein jedoch nachträglich auch die wichtigtsen Informationen, die der Handlungsplanung voran gingen, erfährt, rekonstruiert es nachträglich eine passende Intention. Je nach Wirken psychologischer Mechanismen wie Verdrängung, Projektion etc. kann aber diese rekonstruierte Intention von der tatsächlichen Motivation mehr oder weniger stark abweichen.
Ich persönlich finde diese Kränkung jedenfalls nicht sonderlich schlimm. Wir wissen schon seit Freud, dass eine Person tiefgründiger ist, als sie sich selbst bewusst ist. So oder so bleibt die Handlungsplanung Sache des Individuums, nur das bewusste Ich wurde in seiner Macht überschätzt.
Menschen, die gerne in sich hinein hören und ihr Selbstbild gerne einmal zu oft als einmal zu wenig auf den Neuesten Stand bringen, wissen womöglich, was ich meine, wenn ich sage: Wenn wir uns nicht selbst ein großes Mysterium wären, wäre das Leben ganz schön uninteressant!
Nun zur Verantwortlichkeit:
Es wird die *moralische* Verantwortlichkeit ad absurdum geführt, nicht aber dass Handlungen Konsequenzen haben!
Gerade *dadurch*, dass unser Handeln determiniert ist, wird die pädagogische Bedeutung der Strafe umso wichtiger, denn es ist nicht etwa unsere Aufgabe als Gesellschaft, Verbrecher moralisch zu verurteilen, sondern die, die Vorraussetzungen zu schaffen, dass das gesellschaftsschädliche Verhalten nicht mehr determiniert ist!
Das heißt auch: Unser Justizsystem ist absolut suboptimal! Zu viel verstreichende Zeit und zu wenig Bezug zwischen Strafe und Tat mindern oder verhindern gar einen echten Lerneffekt beim Individuum.
Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, dass dies überhaupt thematisiert werden muss, denn angeblich sind wir ja schon weit weg vom schwarz/weiß-Denken, haben Vorstellungen vom "Bösen" längst hinter uns....
Wenn man aber doch schon verstanden hat, dass es die Vorgeschichte in Zusammenspiel mit Veranlagung ist, die unser Handeln bestimmt, muss man doch auch verstanden haben, dass wir als Gesellschaft dafür verantwortlich sind, dass die Vorgeschichte eines Menschen so geprägt werden muss, dass dieser sich möglichst gut in die Gesellschaft einfügt.
Mal konsequent gedacht:
Kleinkind verkloppt andere Kinder, Eltern handeln nicht, weil die Strafe ja moralisch keinen Sinn macht.
Kleinkind wird erwachsen, hat nun kriminelle Energien entwickelt, da es soziale Regeln nie gelernt hat. Erwachsener ermordet jemanden, aber der Staat macht nichts, weil der Mann ja nichts dafür kann, dass seine Eltern ihn nicht erzogen haben....
Gemerkt? BEIDE "Instanzen" in diesem Gedankenspiel haben versäumt, positiv auf das Individuum einzuwirken.
Also genau so wie natürlich Eltern ihre Kinder erziehen müssen, damit sie überhaupt zu verantwortungsvollen Menschen heran wachsen, muss auch der Staat schädliches Verhalten bestrafen.
Letztendlich kann die Justiz doch sogar nur noch in diesem Sinne optimiert werden, denn wenn wir verstanden haben, dass Strafen keine moralischen Verpflichtungen sind sondern pädagogische, können wir Rückfallquoten vielleicht endlich einmal sinken lassen!
Und noch etwas: Das verwerfen des moralischen Prinzips führt zu einer ganz wundervollen Konsequenz, nämlich der, anderen und sich selbst leichter verzeihen zu können.
Während mir übrigens sonst alle Punkte vorher schon derart im Geist herum spukten (denn ich liebe solche Themen!), ist dieser letzte, friedliche Schluss aber der von Michael Schmidt-Salomon, einem zeitgenössischen deutschen Philosphen.
Noch zum Schluss: Ethik hingegen wird allerdings nicht hinfällig, da Ethik ohne moralische Verurteilung auskommt.
Noch wichtiger: Ethik ist sogar ein Denkmuster, dass ein Individuum zum Guten determinieren kann!
LG
Ele