George W. Bush hat viel Leid über den Irak gebracht. Noch immer sterben täglich mehr als 100 Zivilisten, die Hälfte durch amerikanische Angriffe. Der Krieg verhindert den weltweiten Terrorismus nicht, er fördert ihn. Die Bombardierungen müssen endlich aufhören - und mit Verhandlungen muss begonnen werden.
Eine Außenansicht von Jürgen Todenhöfer
Nach Augenzeugenberichten ist die Lage im Irak keineswegs so, wie sie vom Pentagon dargestellt wird.
Foto: dpa
Nach US-Präsident George W. Bush und anderen amerikanischen Politikern berichtet nun auch Deutschlands Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU), ausstaffiert mit Stahlhelm und Splitterschutzweste, aus den Regierungsbunkern der Festung Bagdad von einer "deutlich verbesserten Sicherheitslage".
Das ist wörtlich die offizielle Sprachregelung des Pentagon. Ich habe die US-Stellungnahmen Zaid gemailt, einem 22-jährigen Studenten, den ich im vergangenen Sommer im Irak kennengelernt habe.
Zaid hatte sich 2007 in Ramadi, der Hauptstadt der westirakischen Provinz Anbar, dem Widerstand angeschlossen, weil seine beiden jüngeren Brüder Haroun und Karim kurz hintereinander von US-Scharfschützen auf offener Straße erschossen worden waren.
Staunen über wirklichkeitsfremde Berichterstattung im Westen
Seither bekämpft er die Besatzer ebenso entschlossen wie die ausländischen Al-Qaida-Terroristen, die die US-Invasion ins Land geschwemmt hat. Und er staunt über die wirklichkeitsfremde westliche Irak-Berichterstattung, die er aus Internet und Fernsehen kennt und die das Land meist nur aus Sicht der "Sieger" zeigt.
Auch mir war bei meinem Irak-Besuch aufgefallen, wie weit in den Berichten über den "befreiten Irak" Dichtung und Wahrheit, Außenansicht und Innenansicht auseinanderklaffen. Das US-Verteidigungsministerium nutzt sein Informationsmonopol gnadenlos aus. Journalisten bekommen meist nur das zu sehen, was ihnen das Pentagon zeigen will.
Und das ist selten die Wahrheit. Über einen gemeinsamen schiitischen Freund schilderte mir der junge Sunnit Zaid, wie er die Lage im Irak des Sommers 2008 sieht: In Anbar gibt es trotz der mit Millionen Dollar gesponserten Kooperation einiger sunnitischer Stämme mit den Besatzern weiter schwere Kämpfe. Ende Juni lagen deren Schwerpunkte bei Ramadi, Falluja, Haditha, Ruthba und Heet.
Die Zahl der amerikanischen Bombenangriffe, Razzien und Schießereien in der Provinz liegt bei 35 pro Woche, die Zahl der getöteten Zivilisten bei 25. Der irakische Widerstand führt wöchentlich 20 bis 30 Militäraktionen gegen die US-Truppen.
Al-Qaida nur noch eine Splittergruppe
Al-Qaida ist auch in Anbar nur noch eine Splittergruppe. Die Bevölkerung hat die ausländischen Terroristen aus ihrer früheren Hochburg - wie aus den meisten übrigen irakischen Provinzen - weitgehend verjagt. Um nicht auch noch den angeblichen Kriegsgrund "Kampf gegen al-Qaida" aufgeben zu müssen, bezeichnet das Pentagon nun alle bekanntwerdenden Angriffe des irakischen Widerstands gegen die US-Armee als Al-Qaida-Angriffe.
Außerdem sorgt es dafür, dass über die ein bis zwei täglichen Al-Qaida-Anschläge möglichst breit berichtet wird, obwohl diese weniger als ein Hundertstel der Militäraktionen im Irak darstellen.
Inflation und Arbeitslosigkeit sind in Anbar auf fast 50 Prozent gestiegen. Neue Jobs gibt es nur noch bei Armee, Polizei und bei den von den USA bezahlten Milizen. Dort erhalten sie mit 500 Dollar pro Monat doppelt so viel Geld wie Lehrer. Einige lösen die dadurch entstehenden sozialen Konflikte, indem sie tagsüber in den amerikanisch finanzierten Sicherheitskräften arbeiten und nachts im irakischen Widerstand kämpfen.
Durchfallkrankheiten bei Kindern haben ein gefährliches Ausmaß erreicht. Den Krankenhäusern von Ramadi fehlt es an einfachsten Medikamenten sowie an spezialisierten Ärzten. Viele Ärzte sind geflohen oder tot. Die Kindersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt - in einem Land, das durch sein Öl zu den reichsten der Welt gehören könnte.
Zaid, der durch die US-Invasion fast alles verloren hat, was er liebt, empfindet die positiven Stellungnahmen westlicher Politiker zur Lage im Irak als Verhöhnung seines Landes. Täglich sterben noch immer 100 bis 120 irakische Zivilisten in diesem völkerrechtswidrigen, sinnlosen Krieg, die Hälfte durch amerikanische Angriffe.
Die weltweite Terrorgefahr wächst von Tag zu Tag
Gleichzeitig geht die weltweite Terrorgefahr nicht etwa zurück, sondern sie wächst von Tag zu Tag. Mit jedem irakischen Kind, das durch westliche Waffen getötet wird, erhält al-Qaida im Westen (nicht im Irak!) mehr Zulauf. Der Krieg im Zweistromland verhindert den weltweiten Terrorismus nicht, im Gegenteil, er fördert ihn. Letztlich führen die USA im Irak Krieg gegen sich selbst und gegen die Glaubwürdigkeit der westlichen Werte.
Wir müssen aufhören mit Bombardieren und anfangen mit Verhandeln. Auch der Ost-West-Konflikt wurde nicht durch Gewalt, sondern mit Härte und Gerechtigkeit, durch Verhandlungen im Rahmen des KSZE-Prozesses gelöst - durch Staatsmänner wie Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. Die 1975 begründete KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ist auch ein Modell zur Lösung der Konflikte des Mittleren Ostens und des Terrorismus.
Selbst Henry Kissinger sieht das so. Der Westen muss die muslimische Welt genauso großzügig und fair behandeln, wie er zu Recht Israel behandelt. Muslime sind genauso viel wert wie Juden und Christen. Der Westen muss aufhören, sie zu dämonisieren und wie Halbaffen zu behandeln. Nach der Aussöhnung von Christentum und Judentum müssen wir auch die Aussöhnung zwischen westlicher und muslimischer Welt schaffen. Wenn wir sie wirklich wollen, ist sie sehr wohl möglich.
Was immer die Zukunft bringt - den Tod seiner Brüder wird Zaid nie überwinden. Manchmal schickt er ihnen wie früher auf seinem uralten Nokia-Handy eine SMS und erzählt ihnen, was er gerade treibt. Er wird nie mehr eine Antwort bekommen. Niemand wird das Leid wieder gut machen können, das der amerikanische Präsident den Menschen im Irak zugefügt hat - den unzähligen Zaids, ihren Müttern und ihren Vätern.
Jürgen Todenhöfer ist stellvertretender Vorstandschef von Burda. Mit den Erlösen seiner Bücher über den Irak und Afghanistan finanziert er Hilfsprojekte in Afghanistan, im Kongo und im Nahen Osten.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/336/185-750/