Jetzt bin ich aber erstaunt, ich dachte dieses Problem gäbe es nicht in der Türkei, aber dort scheint es noch sehr viel schlimmer zu sein als bei uns :
http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26-FB23A0/Doc~E4F934CBE9DBC406B847B7CC02697D19B~ATpl~E-common~Scontent.html?rss\_googlefeed
Jugendkriminalität in der Türkei
Ich habe Yusuf nicht gemocht
Von Rainer Hermann, Istanbul
Allein im vergangenen Schuljahr wurden sechs Kinder und Jugendliche getötet und 77 verletzt
31. März 2008 Warum nimmt mich denn keiner ernst?, fragt die Elfjährige ungeduldig die Polizisten, die sie umringen. Ich habe ihn getötet, ich. Noch immer wollen die Beamten ihr nicht glauben, bis ihnen die DNA-Analyse die Sprache verschlägt. Tatsächlich hat die Elfjährige den neunjährigen Schüler Yusuf aus der Nachbarschaft getötet. Nicht einfach nur getötet. Mit 109 Messerstichen in einen qualvollen Tod geschickt.
Die türkischen Polizisten sind in Sachen Jugendkriminalität viel gewöhnt. Das aber hatten auch sie noch nicht erlebt. Yusuf war schmächtig, die Messerstiche hatten darauf hingedeutet, dass der Täter kein Erwachsener gewesen sein konnte. Ich habe Yusuf nicht gemocht, sagt das Mädchen, das allmählich begreift, was es getan hat. Yusuf war das jüngste von sieben Geschwistern. Der Vater war an Krebs gestorben, die älteste Schwester wurde von einem Lastwagen überrollt, und Yusuf war bereits zweimal operiert worden. Am 22. Januar drückte sein Großvater ihm 20 türkische Lira in die Hand und schickte ihn zum Zigarettenholen. Er durfte sich noch ein Päckchen Chips kaufen, in die Tasche steckte er 10 Lira Wechselgeld und schlenderte zurück nach Hause. Plötzlich stand das Mädchen im Weg, schubste ihn in ein leerstehendes Haus, packte ihn, warf ihn an die Wand, drosch auf ihn ein, stach mit einem Messer 109 Mal zu, nahm die zweimal 5 Lira, ging nach Hause und legte sich auf ihr Bett.
Nie wollte das Mädchen ein Mädchen sein. Es nannte sich Fatma, der Junge und spielte nicht mit anderen Mädchen. Teil der Männergesellschaft wollte es werden und vertrieb sich die Zeit mit Gewaltspielen am Computer. Damit ist vorläufig Schluss. Behandelt wird die junge Mörderin nun in der Kinderpsychiatrie der Universitätsklinik von Mersin im Südosten der Türkei. Dort geschah dieser unfassbare Mord.
Die Jugendkriminalität hat aber auch die vornehmen Viertel Istanbuls erreicht. In Levent, wo die Reichen unter sich sind, fingen auf dem Pausenhof C.B. und F.C. einen Händel an: der eine 14 und Streber, der andere 17 und Sitzenbleiber. Aus dem Spott wurde Ernst, C.B. zückte ein Messer und stieß damit in das Herz des Freundes. Fassungslos reagierten die Schulaufsicht und die Lehrer. Der Schuldirektor für Istanbul machte für die Welle der Gewalt an den türkischen Schulen die Filmindustrie verantwortlich und sprach von den importierten Filmen. Ehrlicher war ein Lehrer der Schule. Er klagte die türkische Volkskultur an, sie propagiere, Probleme seien nur mit Gewalt zu lösen, und er warf der Filmaufsicht unzureichende Kontrolle vor. Konkret nannte er das Format Tal der Wölfe. Ein türkischer Kritiker der populären, aber umstrittenen Fernsehserie hatte einmal ausgerechnet, dass in einer Folge im Durchschnitt 32 Menschen sterben müssen. Ihr Blut fließt, weil mafiöse Helden um Polat Alemdar in einem Akt der Selbstjustiz sich auf die Rettung der Ehre der türkischen Nation berufen.
Schüler von Polat Alemdar sind auch jene 20 Kinder aus der anatolischen Provinzstadt Kirsehir, die mit ihrem Blut die türkische Flagge gemalt haben. Die nationalistische Zeitung Tercüman erfreute am 16. Januar ihre Leser damit, dass sie das Original vervielfältigte und der Zeitung beilegte. Zwei streitbare Frauen, Perihan Magden und Ece Temelkuran, riefen zu einer Unterschriftenaktion dagegen auf. In ihr forderten 160 türkische Intellektuelle, dass die Schüler nicht lernen sollten, mit der Waffe umzugehen, sondern mit dem Füllfederhalter. Das Blatt antwortete mit einer bösen Kampagne, plazierte die beiden auf die erste Seite und titelte: Antworten Sie diesen beiden hässlichen Frauen, den Feinden der türkischen Flagge.
2006/07: sechs Schüler ermordet und 77 verletzt
Nicht wenige Schüler können in der Tat mit dem Messer besser umgehen als mit dem Griffel. Das Erziehungsministerium gab bekannt, im Schuljahr 2006/07 seien auf den Schulgeländen sechs Schüler ermordet und 77 verletzt worden. Für das erste Halbjahr 2007/08 nennt es zwei getötete Schüler. Die Lehrergewerkschaft Egitim-Sen hält diese Zahlen für untertrieben. Sie enthielten nur jene Fälle, über die auch die Presse berichtet habe. Die Dunkelziffer sei erheblich größer. Fälle wie jener der 14 Jahre alten Schülerinnen U.D. und E.C. aus Osmaniye würden nicht erfasst. Sie wollten sich vor wenigen Tagen an ihrer verhassten Lehrerin rächen und kippten ihr Rattengift in das schlanke Teeglas. Nur weil die Kantinenfrauen Reste davon gleich entdeckten, konnte der Lehrerin rechtzeitig der Magen ausgepumpt werden.
Egitim-Sen ist die einzige Institution, die sich regelmäßig des Themas Gewalt in der Schule annimmt. Im letzten Jahr besuchten Gewerkschafter 250 Schulen, erarbeiteten eine große Studie und legten sie dem türkischen Parlament vor. Die Studie ermittelte, dass es in 48 Prozent der Schulen tätliche Übergriffe auf Schüler oder Lehrer gegeben habe. In jeder dritten Schule Istanbuls fanden sich Drogen, in jeder fünften Schule rasierten die Lehrer als Strafe Schülern die Haare ab. In 18 Prozent der Schulen wagten sich die Lehrer nur noch ausgestattet mit einem Knüppel auf das Schulgelände, und 16 Prozent der Lehrer waren bereits mindestens einmal Ziel eines tätlichen Übergriffs.
Ob junge Frauen oder junge Männer, jeder lebt mit der Gewalt
Die Gewalt der Erwachsenen hat die Welt der Jugendlichen erreicht. Darauf wies im Februar Ari hin, eine der ältesten zivilgesellschaftlichen Gruppen der Türkei. In sechs Provinzen befragte sie Mitglieder der Altersgruppe der Sechzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Ob junge Frauen oder junge Männer, jeder lebt mit der Gewalt. 49 Prozent der Männer und 29 Prozent der Frauen waren mindestens einmal Ziel eines tätlichen Angriffs. Bei den Frauen war meist ein Grund, dass die Väter oder Brüder die Kleidung für unzüchtig hielten oder dass sie es wagten, mit jungen Männern außerhalb der Familie zu sprechen. Die Frauenrechtlerin Jülide Aral fand heraus, dass 90 Prozent der Frauen in ihren Familien mindestens einmal Opfer von Gewalt wurden. Die Medizinprofessorin Nurselen Toygar von der Universität Izmir ermittelte, dass Gewalt für 64 Prozent der ungebildeten Frauen ein Alltagsphänomen ist, selbst für neun Prozent der gebildeten Frauen.
Gewalt im Fernsehen und auf dem Computerbildschirm, Gewalt in der Familie und in der Schule. Gewalt als Mittel, seinen Anspruch durchzusetzen. Die populäre Volkskultur vermittelt dies so. Dazu tragen auch der Staat, der Wehrpflichtige in den Krieg gegen die Kurden in den Irak schickt, und seine Institutionen bei.
Befreiung aus den Händen armenischer Banden
Am 3. März feierte die Stadtverwaltung von Askale den 90. Jahrestag ihrer Befreiung aus den Händen armenischer Banden. Wie jedes Jahr inszenierte die Stadtverwaltung auf dem zentralen Platz ein Spektakel. Wie jedes Jahr mussten alle Schüler im Alter von 7 bis 14 Jahren zusehen. Damit sie mit nationaler Begeisterung aufwachsen und wissen, dass durch die Hand der Armenier damals 5000 Märtyrer in der Stadt gestorben sind, rechtfertigte Bürgermeister Ahmet Yaptirmis das Schauspiel. Zum zwanzigsten Mal musste der städtische Arbeiter Celal Akar - gegen seinen Willen - einen der armenischen Bandenführer spielen. Er hatte aus einer Flasche Schnaps zu trinken, betrunken herumzutorkeln, einen muslimischen Imam zu erhängen und ein in Windeln gewickeltes Kleinkind mit dem Bajonett zu erstechen. Wie jedes Jahr heulten bei dieser Szene alle Schüler auf. Endlich bereiten heroische türkische Nationalisten der armenischen Tyrannei ein Ende. Das alles müssen die Schüler wissen, verteidigte sich der Bürgermeister weiter, und auch, dass die Terrororganisation PKK die Fortsetzung der armenischen Terroristen der Asala ist.
In diesem Jahr löste das Spektakel erstmals im ganzen Land einen Sturm der Entrüstung aus. Seine Botschaft sei doch, dass die Armenier unsere Feinde seien, empörte sich selbst Oktay Eksi, der Chefkolumnist des Massenblatts Hürriyet. Er fragte seine Leser, ob sie nun sähen, wie die Mörder des katholischen Mönchs Santoro, von Hrant Dink und der drei Christen in Malatya haben heranwachsen können. Auch erinnerte er an den zentralen Satz der Ansprache der Witwe Dinks bei der Beerdigung ihres Mannes: Nichts wird geschehen, solange wir nicht fragen, wie einer vom Kleinkind zum Mörder werden kann.