so viele Daten der deutsche Staat und die Wissenschaft auch erheben - zu den religionsbezogenen Themen, die viele Menschen bewegen (und verunsichern) gibt es oft wenig Konkretes. Während das Nachbarland Schweiz alle zehn Jahre in einer Volkszählung auch die religiösen Verhältnisse erfasst (ein spannendes und bereicherndes Bild sowohl für die Gesamtgesellschaft wie auch die einzelnen Religionsgemeinschaften selbst!), setzen sich in Deutschland derzeit vor allem engagierte Religionswissenschaftler (wie REMID) nach Kräften für die Bündelung verfügbarer Daten ein. Insgesamt bleibt aber beispielsweise die reale Entwicklung des Islam in unserem Land noch immer eine (wie FOCUS richtig schreibt) "Unbekannte Größe".
Zwischen fehlender Information und Angst
So wird offiziell immer noch und immer wieder von 3,2 Millionen Muslimen in Deutschland gesprochen, obwohl auf diese Zahl aus dem Jahr 2000 schon eine knappe halbe Million Geburten sowie jährliche Nettozuwanderung zu rechnen wäre. Wir dürften uns längst eher nahe vier Millionen bewegen und sollten uns nicht wundern, dass, wo Informationen fehlen und sich die Menschen verschaukelt fühlen (müssen), natürlich auch Ängste und teilweise gezielt gesäte Spekulationen wuchern.
Ein beliebter "Trick" aus dem islamophoben Bereich besteht beispielsweise darin, aus vergangenen, jährlichen Wachstumsraten (beispielsweise der Verdoppelung der Zahl der Muslime von der letzten Volkszählung 1987 bis zur bislang letzten offiziellen Schätzung des Bundesinnenministeriums in 2000 oder einer geschätzten Wachstumsquote von 6,6% zwischen 2000 und 2001) exponentiell in die Zukunft hinein zu rechnen (sogar mit Grafiken). Mit dieser "Annahme" lassen sich natürlich schnell Szenarien berechnen, nach denen die deutsche Bevölkerung zur Mitte des Jahrhunderts mehrheitlich aus Muslimen bestünde. Mit seriöser Wissenschaft hat das aber natürlich nichts mehr zu tun.
Ein paar reale Fakten
Denn in den 90er Jahren verzeichnete Deutschland eine exorbitant hohe muslimische Nettozuwanderung (v.a. Asylgesetze, Bürgerkriege auf dem Balkan etc.), die sich seitdem sukzessive abgeschwächt hat. Auch ein Teil der derzeitigen Familiengründungen geht noch auf diese Einwanderungswelle zurück. Es ist unredlich, diese Sonderfaktoren einfach "fortzuschreiben", als passierten sie regelmäßig.
Die Geburtenzahl von Muslimen in Deutschland gleicht sich nach allen Erkenntnissen den deutschen Gesamtwerten an, wenn auch von einem noch deutlich höheren Niveau. Und: nicht >die< Muslime bekommen generell weiterhin viele Kinder, sondern eher nur der religiösere Teil - ganz genauso wie das auch unter Christen und Juden der Fall ist (dazu z.B. ein Artikel zu Religion und Demografie in Deutschland). Nicht nur der Islam, sondern generell aktive Religionszugehörigkeit wirken geburtenfördernd - was maßgeblich zur auch biologischen Evolution der Religiosität beigetragen haben dürfte.
Auch im internationalen Vergleich verhalten sich Muslime demografisch ebenso wie andere Gesellschaften, die zuvor durch die "demografische Transition" (rapides Ansteigen der Lebenserwartung, aber erst langsames Absinken der Geburtenzahl) gegangen und zeitweise massiv gewachsen sind. Denken wir daran, dass gerade wir Europäer in den letzten Jahrhunderten aus unseren Bevölkerungsüberschüssen Nord- und Südamerika, Australien und zahlreiche weitere Gebiete besiedelt haben, bevor unsere Geburtenzahlen sanken!
Die Muslime gehen heute durch die gleiche Entwicklung - wenn auch sehr viel schneller. Die Geburtenrate türkischer Frauen liegt derzeit nur noch bei 2,2, der Iran sogar nur noch bei 2,0, auch die muslimischen Populationen in Albanien und Bosnien haben bereits begonnen ihrerseits zu unterjüngen. Mit Ausnahme Somalias geht das Bevölkerungswachstum aller mehrheitlich islamischen Staaten derzeit zurück, in einigen Fällen sehr schnell.
Das bedeutet natürlich nicht, dass das globale, muslimische Bevölkerungswachstum binnen weniger Jahre zum Stehen kommen wird. Die große Zahl heranwachsender junger Leute und die steigende Lebenserwartung wird beispielsweise auch in der Türkei und im Iran noch bis zur Mitte des Jahrhunderts eine steigende Bevölkerungszahl verursachen. Auch Frustrationen junger Leute, Arbeitslosigkeit und Konflikte werden nicht sehr schnell aufhören - dagegen können und sollten wir heute etwas tun (z.B. faire Welthandelsregeln). Aber die Daten belegen keine Sonderentwicklung für die islamische Welt, sondern eine langsam abnehmende Tendenz, wie sie im letzten Jahrhundert auch Europa (wie geschrieben: einschließlich der Muslime etwa auf dem Balkan und inzwischen in der Türkei) durchlaufen hat.
Fazit: Deutschland wird nicht islamisch, bekommt aber eine bedeutende, muslimische Minderheit
Die Demografie von Muslimen entwickelt sich nirgendwo auf der Welt grundsätzlich anders als die anderer weltreligiöser Gemeinschaften. In Deutschland sinkt die muslimische Geburtenrate, wenn auch innerhalb der Nettozuwanderung nach Deutschland nachziehende Ehegatten sowie Zuwanderer außereuropäischer Herkunft an Bedeutung gewinnen, was die nachlassende Geburtenhäufigkeit der Muslime türkischer Herkunft etwas ausgleicht. Dass derzeit auf die rund 5% des muslimischen Bevölkerungsanteils mehr als 10% aller Geburten in Deutschland entfallen, hat nur zu einem kleineren Teil mit der noch höheren Religiosität und Geburtenzahl zu tun - zu einem größeren Teil damit, dass die muslimischen Zuwanderer durchschnittlich jünger und also häufiger in der Familienphase sind als die bereits alternde, deutsche Bevölkerung. Insofern dürfte ein stabiles, nicht aber exponentielles Wachstum die Entwicklung des Islam in Deutschland bestimmen.Um 2030 könnten demnach rund sieben Millionen Muslime etwa ein Zehntel der deutschen Bevölkerung stellen - eine wichtige Minderheit, aber bei weitem nicht die von manchen behauptete Dominanz.
Demografie und insbesondere der Zusammenhang von Religion und Demografie bleiben spannende und wichtige Themen, sie tragen zum Wettbewerb der Religionen und damit auch zur Qualitätsverbesserung etablierter Kirchen und Gemeinschaften bei.
Wer sich ernsthaft und wissenschaftlich mit Religionsdemografie auseinandersetzt, kommt zu dem Ergebnis, Dialog, Zusammenarbeit, Demokratie, Bildung und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, um eine global wie regional ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung zu erreichen. Deutschland selbst bleibt eine moderne Familien- und Bildungspolitik und auch postmaterialistische Besinnung auf den Wert des Lebens in Familien zu wünschen, wie sie je an vielen Orten sich zu entwickeln beginnen. Glaube, Liebe und Kinder hängen zusammen - und andere sind nicht schuld daran, sollte es uns heute daran mangeln.
Wer aber Minderheiten diskriminiert, für die je eigenen, niedrigen Geburtenraten verantwortlichen machen will oder gar groteske Verschwörungstheorien verbreitet, der verschärft nur die Konflikte und auch demografische Differenzen.
lg:)