toma_12234039Sodomie
Konrad Lorenz schreibt: "Wer aber, von menschlichen Schwächen enttäuscht und verbittert, seine Liebe der Menschheit entzieht und sie an Hund oder Katze wendet, begeht zweifellos eine schwere Sünde! Eine soziale Sodomie sozusagen, die ebenso ekel erregend ist, wie die geschlechtliche!"
DER BLAMIERTE HUND
Claus-Peter Lieckfeld
Für Tierliebe sollte etwas Ähnliches gelten, wie es Eheberater für die Liebe in der Ehe anmahnen. Ohne Wissen wird sie hohl oder missrät zum Übel. Horst Stern hat einmal gesagt: "Wissen ist die einzige menschenwürdige Grundlage für ein Leben mit Tieren."
Wer danach lebt, dürfte wohl keinen Wellensittich (ein Schwarmtier par excellence!) in Einzelhaft nehmen, nur weil sich das Tier in seiner schmerzhaft empfundenen Vereinzelung so rührend - so "liebenswürdig" - an seinen Käfigschließer hält. Wer den Sternschen kategorischen Imperativ ernst nimmt, wird niemals ein Bewegungstier wie einen hochbeinigen Hund in seine Stadtwohnung zwingen. Tierliebe kann auch heißen, auf Tierbesitz zu verzichten. Aber wenn es zu so heiklen Darf-ich-oder-nicht-Fragen kommt, ist ein Tier plötzlich doch nur ein Tier, wohingegen es sonst durchaus den Rang eines Fast-Menschen einnehmen darf.
Dahinter steht natürlich die alte Frage, wie viel uns von der Kreatur trennt. Das Tierspezifische schien lange eindeutig definiert zu sein: Ein Tier, so glaubte man zu wissen, habe kein Bewusstsein, keine Sprache, kenne keinen Werkzeuggebrauch. Ein hoch entwickeltes Tier bringe es allenfalls zu einer Art Vorform von Intelligenz. Es "lernt". Aber in Anführungsstrichen. Und diese Anführungsstriche haben uns lange angeführt.
All die Gewissheiten, die noch vor dreißig Jahren zwischen uns und "den Anderen" standen, oszillieren heute irgendwo im Grenzbereich zwischen zweifelhaft und falsch. Die niederländische Anthropologin Barbara Noske dokumentiert in ihrem Buch "Beyond Boundaries. Humans and Animals" die Choreografie eines Eiertanzes. Den, so mag es scheinen, führte die Wissenschaft lange an der Tier-Mensch-Grenze auf, um die menschliche Sphäre tierfrei zu halten.
Sprache zum Beispiel. Die alte Position, Tiere hätten nur eine simple Signalsprache, die vorgestanzte Reaktionen beim Empfänger auslöse, brach spätestens mit der Schimpansen-Sprachforschung zusammen. In einer Zeichen- und einer eigens entwickelten Symbolsprache, die sich bunter Plastiksteine bedient, demonstrierten trainierte Schimpansen sogar schöpferischen Umgang mit der erlernten Fremdsprache. Eine gewisse Lucy nannte ein scharf schmeckendes Radieschen "Weinen-Schmerz-Essen".
Ein weiteres Beispiel: Ich-Bewusstsein. Forscher haben herausgefunden, dass Delfine und Primaten (und auch Elstern!) ihre Spiegelbilder treffsicher zu erkennen scheinen. Drittens: Werkzeuggebrauch bei Darwinfinken, Seeottern oder Affen ist weit mehr als ungerichtetes Stochern und Hämmern. Schließlich: Kulturelle Vermittlung, angeblich eine rein menschliche Domäne, ist auch bei Fuchs- und Waschbärmüttern zu beobachten; sie können erworbenes Spezialwissen an den Nachwuchs weitergeben. Es gibt Waschbärdynastien, in denen das Wissen um "waschbärsichere" Verschlüsse an Hausmülltonnen jeweils von Müttern an Töchter weitergegeben wird.
Und noch etwas: Tiere sind durchaus im Stande, bewusst zu lügen beziehungsweise zu täuschen, also zu Denkleistungen fähig, die exklusiv menschlich erscheinen. Man hat einen besonders gewitzten Schimpansen - er war spezialisiert auf das Süßigkeiten-Angeln an trickreich konstruierten Futterspendern - im Freilandkäfig dabei beobachtet, wie er unter den Augen der beobachtenden Konkurrenz so tat, als hätte ihn seine Fähigkeit verlassen. Er spielte sogar Frust, ja aufkommende Verzweiflung über sein Scheitern. Kaum hatten sich die Mitaffen, die ihm sonst ärgerlicherweise seine Beute abzunehmen pflegten, verzogen, spielte der Experte, nun unbeobachtet, sein Können aus.
Konrad Lorenz berichtete in ähnlichem Zusammenhang von seinem Hund. Bully war es im Alter bei abnehmender Sehschärfe "peinlich", wenn er den heimkehrenden Lorenz versehentlich als Eindringling verbellte, statt ihn schwanzwedelnd zu begrüßen. Bully gab dann, geschäftig an Herrchen vorbeieilend, vor, einen Hund auf dem Nachbargrundstück verbellen zu müssen: eine Ausrede, um nicht "blamiert" dazustehen. Liebenswert, ohne Frage. Liebenswert natürlich, weil wir uns im Tier wieder erkennen. Tiere sind auch nur Menschen, sagt der Volksmund. Es fällt auf, dass Tierliebe - nehmen wir das Wort einfach mal so, ohne weiter daran herumzudefinieren - vielen leichter fällt als Menschenliebe.
Im Tier lacht uns noch die paradiesische Ahnungslosigkeit an. Einfach nur sein. Ohne Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Eine betagte Katze sieht keine innere Sanduhr vor dem inneren Auge rieseln. Sie ist zeitlos, weil sie die Zeit los ist. Die reine Leere beglückt. Denn wenn schon der Tod in der Welt ist, wie schön wäre es da, das nicht wissen zu müssen. "Immer ist es die bewusste oder unbewusste Sehnsucht nach der Berührung mit dem zweckfrei, gelöst und unkompliziert Lebenden, was einen Menschen den Umgang mit Tieren in ihrer Heiterkeit suchen lässt", schrieb die Tierschutzpionierin Julie Schlosser schon 1932.
Ein anderer ganz und gar unbestreitbarer Grund für unsere Tierliebe: Tiere haben einen unschätzbaren Vorteil. Sie reden nicht. Und sie widersprechen folglich auch nicht. Eine Katze sagt nie: "Idiot, hör auf, mich gegen den Strich zu streicheln!" Sie verzieht sich einfach unauffällig. Ein armer alter Hund, auf den stundenlang eingeredet wird, knurrt niemals in für Menschen verständlicher Weise. Allfällige Verletzungen, die bei Mensch-Mensch-Begegnungen (selbst bei aller Gutwilligkeit) nicht auszuschließen sind, kommen in Mensch-Tier-Beziehungen also kaum vor. Wenigstens nicht auf Seiten des Menschen.
Und noch etwas zählt: Das geliebte Haustier läuft, anders als Ehemänner und -frauen, Kinder und Freunde, in der Regel nicht weg. Man kann sich seiner sicher sein, man kann ein abhängiges Tier ganz und gar besitzen. Das mag ein zweifelhaftes Motiv, aber auf jeden Fall ein gutes Gefühl sein. "Alle ungeläuterte Liebe will besitzen", schreibt Julie Schlosser an anderer Stelle, und sie fügt hinzu: "Die zu den Tieren kann sich diesen Wunsch im vollen Umfang erfüllen."
Und diese Wunscherfüllung befriedigt auch noch gleich ein Begehren, das universell ist: den Wunsch nach Schönsein. Tiere können für uns schön sein. Ersatzschön. Die übergewichtige Hundenärrin mit dem Windhund lebt in einer Symbiose: Der eine braucht ein Dach über dem Kopf, die andere bewundernde Blicke. Derart symbiotische Beziehungen gibt es etliche. Auch der menschliche Underdog, der im U-BahnSchacht bettelt, und sein Prachthund leben in einer emotionalen Zuerwerbsgemeinschaft.
Spätestens an dieser Stelle werden viele, die mit Haustieren den Lebensraum teilen, abwinken und sagen: Bei mir ist das anders, meine Tierliebe ist keine wie auch immer um- oder abgeleitete Eigenliebe. Keine Ersatzliebe oder sonst was. Sie ist lauter.
Kein Einspruch. Ich muss das schon deshalb glauben, weil ich mir selbst glaube: Einerlei wie viel verkappte Eigenliebe, wie viel erfülltes Amüsierbedürfnis sich in der Liebe zu meiner Katze auch immer verbergen mögen, all das tut meiner Beziehung zu ihr keinen Abbruch. Wir lieben die Kartäuserkatze, die im Februar vor zwölf Jahren bei minus zehn Grad Celsius vor unserer Tür stand, und körpersprachlich sagte: Entweder ihr lasst mich rein oder ihr müsst morgen meine steif gefrorene Leiche entsorgen. Wir lieben uns. Basta! Kein Geringerer als Sigmund Freud hat das Erlöserwort dazu gesprochen: "Tier ist immer richtig."
Richtig ist aber auch, dass unsere Tierbeziehung kein frei schweifendes Gefühl ist. Sie braucht vertraute Bezugspunkte. Leichter liebt sich allemal ein Wesen, das ein quasi menschliches Gesicht hat. Fische faszinieren zwar, aber der Mensch kann sich in ihren Gesichtern nicht erkennen. Er spiegelt sich nicht im Fischauge, sondern im Aquarium. Nicht zuletzt wegen unserer stammesgeschichtlichen Verwandtschaft zu den Gesichtstieren ist unsere Zuneigung selektiv. Worin wir uns weniger erkennen, das ist uns wesensferner.
Für Tiere in Menschennähe gibt es allerdings noch griffigere Einteilungen. Wir ordnen sie, so der Biologe und Wissenschaftskritiker Rupert Sheldrake, zum Beispiel "in zwei strikt getrennte Kategorien ein: Die einen verzehren Haustierfutter, die anderen werden dazu verarbeitet". Bertolt Brecht hat das emotionale Dilemma einmal wunderbar süffisant auf den Punkt gebracht: "Ich bestelle ein Steak, und der Unmensch von Schlachter tötet ein Rind!"
Auch wer meist guten Gewissens Fleisch isst, will mit dem Schlachthaus nichts zu tun haben. Ich erinnere mich an den sanften Schauder, der durch den festlich geschmückten Raum und über das Rindfleisch auf dem Teller hinwegwaberte, als Biofleischproduzent und Ökosponsor Ludwig Schweissfurth seinen geladenen Gästen ein Bild an die Stirnseite der Tafel projizieren ließ: ". und das hier ist Candy, deren Fleisch Sie gerade essen." Tierliebe, so Schweissfurths Credo, kann auch heißen: Das Mindeste, was wir Tieren, die wir nur halten, um sie zu verzehren, schulden, ist ein gutes Leben vor dem gewaltsamen Tod.
Jäger - denen ich Tierliebe nicht absprechen möchte - stehen vor einem ähnlichen Liebesdilemma. Sie schießen auf das, was sie lieben. Der passionierte Jäger, Autor und Wildexperte Ulrich Wotschykowsky verlangt daher konsequent von jedem Weidmann, der mit ihm ernsthaft über Jagd reden will, das Geständnis: "Ich töte gern." Ersatzweise: "Ich mache gern Beute." Bei letzterer Bekenntnisvariante ist ein Stückchen Entschuldigung eingebaut. Man(n) kann sich auf sein Erbteil aus der Zeit der Steinzeitjagd berufen.
Ansonsten muss man seine Zweifel haben, dass uns unser Verhältnis zu Tieren generell und gar noch kulturübergereifend angeboren ist. Tier"liebe" schon gar nicht. Urlauber kennen die Bilder von brutal überladenen Eseln, auf die eingeprügelt wird, auch wenn sie vor Schwäche zitternd keinen Schritt mehr machen wollen. Anderen ist kaum begreiflich zu machen, dass man einer zum Verzehr bestimmten Schlange nicht lebend die Haut abziehen sollte. Und erst Tierliebe als Staatszielbestimmung, wie seit kurzem in Deutschland? In großen Teilen der Welt wäre das eine ungeheure Lachnummer.
Ich erinnere mich noch gut an ein entsprechendes kulturelles Missverständnis; ich wollte einem Jemeniten begreiflich machen, dass man nicht zum Zeitvertreib mit Steinen auf Straßenhunde werfen sollte. Der Angesprochene meinte, mich störe, dass Steine - an denen sich ja auch Fußgänger stören könnten! - durch sein spielerisches Hunde-Zielschießen auf die Lehmpiste gerieten. Eine Intervention wegen der Hunde schien ihm offenbar undenkbar.
Ein Freund und Jemenkenner, dem ich davon berichtete, hatte zu diesem Ärgernis aller Jemen-Touristen eine Geschichte parat, die Einiges erklärt.
Ein ihm tief verbundener Jemenit wandte sich mit einer typisch arabisch eingekleideten Frage an ihn: "Dietmar, mein Freund, ich habe eine Frage, die du bitte nicht als Beleidigung verstehst; und wenn sie dich doch beleidigt, dann betrachte sie bitte als nicht gestellt!" "Mohammed, du bist mein Freund, nie würdest du mich beleidigen!" "Schwöre beim einzigen Gott, dass sich durch meine Frage an unserer Freundschaft nichts ändert!" "Ich schwöre es beim einzigen Gott." "Stimmt es, dass man in Deutschland Hunde mit ins Haus nimmt?"
"Ja, Mohammed, das stimmt."
Langes, fassungsloses Schweigen. Dann: "Dietmar, ich habe noch eine Frage. Und du darfst mich erschlagen, wenn die Frage dich und dein Volk beleidigt." "Mohammed, du bist mein Freund, und du bist ein großer Freund meines Volkes, ich weiß, dass dir Beleidigungen nie in den Sinn kämen." "Stimmt es, dass es bei euch . Frauen gibt, die Hunde oder Katzen mit . ins Bett nehmen .?"
Dietmar verneinte. Er wusste, dass eine ehrliche Antwort Mohammeds Deutschlandliebe unreparierbar beschädigt hätte.
Tierliebe kann auch trennen.