Für die, die es interessiert ist zwar etwas lang aber wirklich sehr interessant
"Es war eine Meldung, die frischgebackene Eltern in Angst und Sorge versetzte. Stillkindern droht gefährlicher Eisenmangel, so warnten vor zwei Wochen die Universität Bonn und das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) in einer gemeinsamen Mitteilung. Durch den Text, der in vielen Zeitungen und Fachjournalen abgedruckt wurde, ziehen sich bedrohlich klingende Begriffe wie erschöpfte Eisenspeicher und Eisenmangel-Anämie. Und es wird geraten, nach dem vierten Monat oder allerspätestens nach einem halben Jahr mit dem Zufüttern zu beginnen.
Damit widerspricht diese Studie den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach Kinder ein halbes Jahr lang ausschließlich gestillt werden sollten.
Stutzig macht zunächst eine Formulierung am Textende: Beim Zufüttern sollten Eltern auch darauf achten, zu möglichst fleischreichen Gläschen zu greifen. Eigenartig: Wurde doch weiter oben im Text noch detailliert beschrieben, dass die an der Studie beteiligten Stillkinder auch nach monatelangem Zufüttern von Fleischbrei viel weniger Eisen im Blut hatten als die Vergleichsgruppe der Flaschenkinder. Muss man daraus nicht folgern, dass die Fleischbreikost ungeeignet ist, den vermeintlich gefährlichen Eisenmangel zu beheben?
Michael Lentze, Direktor der an der Studie beteiligten Universitätskinderklinik in Bonn und Leiter des Dortmunder FKE, reagiert unwirsch auf kritische
Nachfragen. Auf die Frage, welche Erkenntnisse zum kindlichen Eisenstoffwechsel den veröffentlichten Interpretationen zugrunde liegen, beruft sich Lentze vage auf Studien aus den 50er- und 60er-Jahren.
Die WELT hat daraufhin mehrere Experten gebeten, die FKE-Studie und die dazu veröffentlichte Mitteilung zu prüfen.
Sie sprechen ein vernichtendes Urteil.
Alfred Längler, Leitender Arzt der Kinder- und Jugendmedizin im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, ist der Meinung, dass die Ergebnisse dieser Studie in der Interpretation überstrapaziert werden. Die Schlussfolgerung, schon an vier Monate alte Kinder möglichst fleischreiche Gläschen zu verfüttern, könne aus den Ergebnissen der Studie nicht gezogen werden.
Noch deutlicher wird Gisela Janßen, Oberärztin der Abteilung Kinderonkologie und -hämatologie an der Uni-Klinik Düsseldorf. Ich kann in den in der Studie veröffentlichten Hämoglobin-Werten keinen Hinweis auf eine durch Eisenmangel bedingte Blutarmut finden, sagt sie. Ohnehin seien die Daten nur eingeschränkt verwertbar, da punktuell gemessene Eisenwerte im Blut von Kindern keine Aussagekraft hätten. So unterliegt der in der FKE-Studie aufgeführte Eisenspeicher Ferritin starken Schwankungen etwa bei Entzündungen. Um herauszufinden, ob ein Kind an Eisenmangel-Anämie leide, seien weitere Parameter heranzuziehen, sagt Janßen, etwa der sogenannte RDW-Wert, der die Verteilungsbreite der roten Blutkörperchen anzeigt:
Doch diese Werte wurden in der Studie nicht gemessen.
Auch die klinische Erfahrung spricht gegen die vom Forschungsinstitut FKE heraufbeschworene Gefahr einer Eisenmangel-Anämie. Reife Neugeborene würden mit Eisenspeichern geboren, die vier bis fünf Monate ausreichen, sagt Janßen. Außerdem könne das in der Muttermilch enthaltene Eisen besonders gut aufgenommen werden. Dieses Eisen wird zu 50 Prozent resorbiert, Eisen aus anderer Nahrung nur zu etwa fünf Prozent, sagt Janßen und kommt zu dem Ergebnis: Bei Kindern, die in den ersten sechs Monaten ausschließlich gestillt wurden, stellt also ein Eisenmangel im ersten Lebensjahr kein relevantes Problem dar.
Diese Einschätzungen teilt auch Roswitha Dickerhoff, Hämatologin an der Kinderklinik Düsseldorf. Anders als das FKE-Forscherteam hält sie ausschließliches Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten sogar für unerlässlich. Nur dadurch seien Kinder etwa vor schweren Durchfallerkrankungen im ersten Lebensjahr geschützt.
Die Liste der methodischen Mängel ist noch länger: Erika Nehlsen, Leiterin des Ausbildungszentrums für Laktation und Stillen, kritisiert, dass in der Studie kein Wort darüber verloren werde, dass das Zufüttern nachweislich die Eisenaufnahme aus der Muttermilch hemme. Nicht berücksichtigt sei außerdem, dass zu schnell abgenabelte Kinder nicht die nötigen Eisenvorräte für die ersten Monate mitbekämen.
Man könnte diese Fehler der Studie als das Ergebnis von Leichtfertigkeit und Wichtigtuerei abtun, wäre das FKE in Dortmund nicht ein einflussreiches Institut für Fragen der Kinderernährung. Seinen Einschätzungen folgen Kinderärzte und Erziehungsratgeber. Die für die Studie verantwortliche Forscherin Mathilde Kersting ist Mitglied der Nationalen Stillkommission einer Institution, die die Aufgabe hat, das Stillen zu fördern. Und wenn in deren Reihen die Empfehlung ausgesprochen wird, Babys nicht allzu lange mit der Mutterbrust abzuspeisen so hat das in der öffentlichen Wahrnehmung Gewicht.
Kritiker des Dortmunder FKE beklagen immer wieder, das Institut sei von der Nahrungsmittelindustrie abhängig. Tatsächlich wird als Geldgeber der aktuellen Studie die Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft genannt (CMA, Fleisch ist ein Stück Lebenskraft). Hipp und Nestlé lieferten die gepriesenen fleischreichen Gläschen.
Nach Angaben der Firma Hipp werden mit fleischhaltigen Gläschen in Deutschland pro Jahr 94 Millionen Euro umgesetzt. Allein Hipp verarbeitet jährlich 2200 Tonnen Fleisch. Doch 2006 bekam der Fleischabsatz in Babygläschen einen Dämpfer, denn in Deutschland wurde eine EU-Richtlinie umgesetzt, die den Fleisch-Mindestanteil in Fleischgläschen von zwölf auf acht Prozent senkte. Daraufhin wurde das Dortmunder FKE aktiv und untersuchte, ob das nicht zu einem Eisenmangel führe. Das Ergebnis der Studie: negativ. Dennoch, so erfuhr die WELT aus Kreisen der Universität Bonn, wollte die FKE-Forscherin Mathilde Kersting diese Studie als Beleg für ihr Plädoyer heranziehen, man solle möglichst fleischreiche Gläschen beifüttern.
Stillende Mütter dürfen also den jüngst ausgelösten Eisenmangel-Alarm getrost wieder vergessen. Auch die Natur hat das ausschließliche Stillen bis zum sechsten Lebensmonat vorgesehen, sagt die Hämatologin Roswitha Dickerhoff, vorher seien Kinder nicht in der Lage, mit fester Kost fertig zu werden: Gläschen werden meinem Wissen nach von der Natur nicht ohne Weiteres geliefert.