"Weh, wer zu spät bereut!" >> das wusste schon William Shakespeare. Ob er auch er wohl die persönliche Erfahrung gemacht hat, das Reue eines der schlimmsten Gefühle ist, vielleicht sogar das Schlimmste überhaupt?
Ich kann es eigentlich kaum fassen. Nach Jahren hatte ich heute das Bedürfnis, dieses uralte Posting zu lesen. Ich musste es suchen, weil ich mich noch nicht einmal mehr an meinen Benutzernamen erinnerte und zack, da war es. Ich kann gerade ehrlich nicht sagen, ob ich lachen oder weinen soll: Diese vielen - sehr lieben - Antworten, die Tatsache, dass es andere Frauen gibt, die das gleiche durchmachen und denen meine Postings geholfen haben und diese vielen Nachrichten in meinem Postfach. Da stapeln sich die jahrealten und brandaktuellen Fragen von jungen Frauen, die die selbe Entscheidung treffen müssen und meine Hilfe dafür erfragen. Und die ebenso alten wie neuen Geschichten von Frauen, die nach der Abtreibung ähnliche Gefühle hatten. Irgendwie glaube ich, das ist die beste Medizin, denn heute ist wieder so ein Tag.
Ich möchte Euch zuerst einmal schildern, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist. Wie gestern, kann ich mich an den Tag erinnern, als ich diesen Test machte und meine Welt einstürzte. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich mich für klug hielt und für verantwortungsvoll. Letztlich war ich von dieser Entscheidung (die ja eigentlich auch gar keine Entscheidung hätte sein müssen) völlig überfordert. Da war dieses Brandmal "geschwängert", das mir Angst machte. Noch dazu von einem Typen, den ich kaum kannte und der, wie sich sehr schnell herausstellte, nicht gerade der verantwortungsvolle Mann war, den man sich als Vater wünscht. Alleinerziehende Mutter zu sein, machte mir ebenfalls riesige Angst. Da kam ich kaum mit mir selbst klar, wie sollte ich einem kleinen, schutzbedürftigen Wesen, eine gute Mutter sein? Fassen wir es mal zusammen: Ich hatte Angst und war von der Entscheidung völlig überfordert.
Ich war bei Pro Familia, saß meine Stunde da ab und bekam diesen Wisch. Unfassbar eigentlich, wie einfach das war, da kann ich liebhab98 nur zustimmen. Ich kann mich aber auch daran erinnern, dass meine Gesprächspartnerin dort versucht hat, mir zu erklären, dass es hart werden kann. Ich hatte ihr nur einfach überhaupt nicht zugehört. Den für mich wohl entscheidensten Rat holte ich mir bei meiner älteren Schwester. Ich erzählte ihr damals von der Schwangerschaft und fragte sie, was ich tun soll. Eigentlich auch unglaublich. Wir redeten gar nicht groß darüber, hauptsächlich, weil ich ohne Pause heulte. Ich weiß noch, dass sie im ersten Moment erschrocken schaute aber sie fasste sich sofort und sagte "Denya (Name geändert), mach es weg. Wenn du mich irgendwann dafür hasst, dann nehme ich das jetzt auf mich - aber mach es weg." Und damit war es irgendwie klar, sie hatte mir die Entscheidung abgenommen. >> Diese Tatsache werfe ich mir (und innerlich auch ihr) auch heute immer wieder vor.
Das erste Jahr nach der Abtreibung war der Horror, den ich schon geschildert habe. Ich hatte das Bedürfnis, mich selbst zu bestrafen. Ich erkannte sehr schnell, dass ich nicht aus klugen und verantwortungsvollen Gründen gehandelt habe, sondern aus purem Egoismus und aus vollkommener Unwissenheit und Unverständnis. Ich war schlicht und einfach zu jung, zu dumm und zu egoistisch. Diese Erkenntnis traf mich natürlich direkt in der Nacht nach der Abtreibung, ich werde diese Dunkelheit in mir und mein schwarzes Herz, besonders in dieser Nacht aber auch in der Zeit danach, niemals vergessen.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich selbst bestrafen oder ich hätte nur das Schlechteste verdient, schwer zu erklären. Ich kam jetzt nicht auf die Idee, mich zu ritzen oder so. Aber ich rauchte absichtlich besonders viel und besonders starke Zigaretten. Ich fing an, alleine zu Hause zu kiffen (total dämlich), ich begann, alleine zu Hause Alkohol zu trinken (ebenso dämlich), ich aß nur noch in der Öffentlichkeit, damit ich beim essen gesehen werde und die Leute nicht denken, ich sei Magersüchtig. Aber eigentlich hatte ich damals nicht das Gefühl, als hätte ich es verdient, zu essen. Schwer in Worte zu fassen, welche hässlichen und schwarzen Gefühle ich hatte.
Es war wie eine dunkle Wolke, die sich nur sehr schwer lichtete. Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden wollte. Es gab einige Versuche von meiner Mutter oder meiner Schwester aber ich blockte alles ab. Denn auch hier diese Bestrafungssache: Das hatte ich mir selbst eingebrockt und jetzt musste ich damit klarkommen. Ich hatte nicht das Recht, mit jemandem darüber zu sprechen. Es musste mir schlecht gehen, es durfte mir nicht besser gehen, ich hatte das nicht verdient. Ich musste leiden. Tja, wenn ich das heute - nach 9 Jahren so schreibe - schockiert mich das selbst aber damals war das genau meine Denkweise.
Es dauerte ca. ein halbes Jahr, bis durch die dunkle Wolke wieder hellere Strahlen fielen. Allerdings heisst das nicht, dass ich jetzt besonders erwachsen und demütig aus der Sache herausgegangen wäre. Nein, gleich an einem der ersten Tage, an denen es mir besser ging startete ich meine große Partymaus-Karriere. Feiern, Alkohol, flirten - aus heutiger Sicht ziemlich trostlos, damals aber tatsächlich für einige Jahre mein hauptsächlicher Lebensinhalt. Ich war dafür bekannt, dass man mit mir immer hart abfeiern konnte und dafür, einfach auf jeder Party ziemlich betrunken zu sein. Ich habe nie gesehen, dass das so etwas wie eine Flucht vor dem sein könnte, was ich getan hatte, bzw. vor dieser drohenden Depressions-Wolke, die am Horizont noch immer zu sehen war und darauf wartete, wieder zurückzukommen. Heute ist das meine Vermutung.
Letztlich wurde ich dann aber doch - neben der Partymaus-Karriere - einigermaßen erwachsen und versuchte die tatsächlich wichtigen Dinge im Leben zu identifizieren. Ich habe tatsächlich eine kleine Karriere hingelegt an der ich auch noch ein paar Jahre weiterbasteln möchte, ich bin in Partymaus-Rente, also gehe ich zwar hin und wieder aus, die wilden Eskalationen, Besäufnisse und Eskapaden habe ich aber hinter mir gelassen. Drogen sind Gott sei dank nicht vorgekommen. Klar, es gab die vielen Joints in der dunklen-Wolke Zeit und eigentlich auch in der Partymaus-Zeit aber das reizt mich nicht mehr.
Diese dunklen Momente, die gibt es aber immer wieder. Es sind Kleinigkeiten, die mich daran erinnern - aber sie haben große Auswirkungen. Anfangs war das öfter der Fall - in der ersten Zeit musste ich ständig daran denken, später hatte ich diese dunklen Momente nicht mehr so oft, akuell ist es meistens um diese Zeit. Aber bis heute gibt es eigentlich kaum einen Tag, an dem der Gedanke an das was war, nicht zumindest kurz auftaucht.
Und heute war wieder einer der dunklen Tage. Es gibt bei uns in der Familie gerade einige gesundheitliche Probleme, die manches Mal auch Streit und Unfrieden mit sich bringen. Und heute war der Tag, an dem meine Mutter das erste Mal so richtig (nach nun neun Jahren) herausgelassen hat, wie schlimm das eigentlich für sie war und was ich ihr angetan habe, indem ich ihr ihr Enkelkind genommen habe. Ihr könnt euch vorstellen, dass das gesessen hat. Ich sitze also nach neun Jahren hier und heule, habe die schwärzesten aller Gedanken und erinnere mich an dieses Forum. Ich wollte einfach nur lesen, was ich geschrieben hatte, weil mir das in anderen dunklen Phasen schon geholfen hat.
Und heute ist mir tatsächlich etwas klar geworden. Ich hätte unbedingt professionelle Hilfe gebraucht, auch wenn ich die Notwendigkeit niemals gesehen habe. Ich dachte doch tatsächlich, ich hätte es geschafft und sei darüber hinweg - vor Jahren schon. Und noch etwas habe ich erkannt. Wie gesagt, ich dachte bei mir sei alles in bester Ordung: Seit ca. Jahren habe ich ganz schlimme Fress-Attacken, meist so 2-3x im Monat, in schlimmen Phasen 1-2x pro Woche. Diese schlimmen Fress-Attacken gehen meist mit einem ziemlich schlechten Gewissen einher, wegen der ultra-vielen Kalorien, Zucker, etc. Nicht immer aber doch sehr häufig übergebe ich mich dann und spucke all diese vielen Süßigkeiten, Pizza, Chips und Schokolade wieder aus. Dass das nicht normal ist, weiss ich schon eine Weile. Ich versuche mich zu beherrschen und habe mich auch schon damit auseinandergesetzt und das gegoogelt. Vor einigen Tagen habe ich beschlossen, mit meinem Arzt darüber zu sprechen und mir psychologische Hilfe zu suchen, um dagegen anzukämpfen. Aber erst heute habe ich verstanden, dass auch dieses Verhalten wie eine Bestrafung für mich selbst wirkt. Und dass es auch hier einen Zusammenhang zu einer unverarbeiteten Abtreibung von vor 9 Jahren gibt. Unfassbar wie naiv ich eigentlich auch heute noch bin.
Was mir hilft, ist der Gedanke, dass es hier Leute gibt, die an meinem Schicksal anteil nahmen und mir wirklich zugehört haben. Was Balsman für meine Seele ist, ist dass meine Postings von Frauen gelesen wurden, die so verstanden, dass es auch anderen Frauen nach der Abtreibung so ging - und denen das wirklich geholfen hat. Ich freue mich wirklich, dass ich hier helfen konnte und möchte betonen, dass auch die Antworten derer, denen es genauso ging, mit sehr geholfen haben!
Was all die Frauen anbelangt, die sich entscheiden müssen: Die individuelle Entscheidung kann Euch keiner abnehmen. Was ihr hier gelesen habt, muss nicht für Euch zutreffen. Ihr selbst müsst das für und das Wider abwägen - aber - und jetzt kommt mein persönlicher Rat. Prüft Eure Pros und vor allem Eure Kontras ganz genau. Sind das fadenscheinige Gründe? Oberflächlichkeiten? Sind es Gründe, die andere Euch genannt haben? Habt Ihr Angst, vor anderen mit einem Kind blöd dazustehen? Überlegt Euch das gut, denn falls Ihr Euch für eine Abtreibung entscheidet, müssen diese Gründe Eurer eigenen moralischen Prüfung standhalten können. Und wenn Ihr Euch unsicher seid, sucht Euch unabhängige Leute, wie z.B. einen Vertrauenslehrer, die (hoffentlich) nicht versuchen Euch zu beeinflussen und in eine der beiden Richtungen zu drängen.
Würdet ihr mich heute fragen (und deshalb gebe ich Euch keine Empfehlung), würde ich Euch immer zum Baby raten.
Ach übrigens, bestimmt für Euch auch interessant: Ich bin mittlerweile 31, habe keinen Freund und keine Kinder. Dabei wünsche ich mir mittlerweile von tiefstem Herzen meine eigene, kleine Familie.
P.S.: Ihr seid die langen Postings von mir ja gewohnt. Ich habe es dieses Mal zwar nochmal durchgelesen und auf Rechtschreibfehler überprüft, bin mir aber sicher, dass mir mit Sicherheit einige durch die Lappen gegangen sind. Entschuldigt!
Liebe Grüße und danke dafür, dass Ihr da seid! <3
Eure Denya