Ich war einige Zeit verhindert, mich in diesem Forum gross zu beteiligen. In einem anderen Thread wurden mir recht happige Unterstellungen gemacht und es wurde mir vorgeworfen, ich habe keine Argumente. Ich möchte auf einige Punkte zurückkommen. Da ich nicht in einem Satz begründen kann, wofür Philosophen ganze Bücher schreiben, wird es diesmal etwas länger....
DER STATUS DES EMBRYO
Es wird oft behauptet, der Mensch sei Mensch von der Befruchtung an. Das ist nicht haltbar. Schon allein deshalb, weil bis zum 16. Tag aus einer befruchteten Eizelle Zwillinge oder gar Drillinge entstehen können. Es kann ja nicht sein, dass aus einem Menschen plötzlich zwei oder drei werden...
Die Begriffe Mensch und menschliches Leben sind eben nicht identisch. Niemand bestreitet, dass eine befruchtete menschliche Eizelle menschlich und lebendig ist. Mindestens die Hälfte der Frühembryonen gehen ganz spontan von selber ab niemand beweint sie als verstorbene Menschen.
Aber was macht nun den Menschen aus? Darüber kann man philosophieren.
Die genetische Anlage, meinen die einen. Die ist aber je zur Hälfte bereits in der Samen- und der Eizelle enthalten sind sie halbe Menschen? Der ganze genetische Code ist in jeder Körperzelle vorhanden, jede Zelle ist menschlich und lebendig. Der genetische Code kann also nicht den Menschen ausmachen. Ich meine, eine Anlage ist noch kein Mensch, sowie ein Plan noch kein Haus, ein Ei kein Huhn ist. Der Embryo ist noch nicht, was er erst wird.
Von der Befruchtung bis zur Geburt gibt es eine stetige Entwicklung, aber keine scharfe Zäsur. Die entscheidende Zäsur ist in meinen Augen die Geburt. Hier wird das Neugeborene ein selbständiger, von der eigenen Mutter unabhängiger Mensch (ernährt und gepflegt werden kann es auch von jemand anderem). Mit der Geburt wird der Mensch Mensch, mit dem ersten Atemzug. Im übrigen gelten auch die vollen Menschenrechte erst für den geborenen Menschen.
was ist es denn z.B. in der 32.ssw, fragt angie260107. Ich würde sagen, ein werdendes Kind. Da sind wir bei der Problematik der Spätabbrüche, ich komme darauf zurück.
Nach meinem Empfinden nimmt der moralische Stellenwert des Embryos/Fötus mit fortschreitender Entwicklung zu. Ein Gebilde von einigen Zellen, ein 4mm grosser Embryo von 4 Wochen, der noch überhaupt nicht im entferntesten menschliche Gestalt hat, ein 8 Wochen alter Embryo (Ende 10. SSW), bei dem Arm- und Beinknospen erkennbar sind, ein 14-wöchiger Fötus, der schon baby-ähnliche Formen hat, aber noch weit davon entfernt ist, irgendetwas bewusst tun oder wahrnehmen zu können, ein 22 Wochen alter Fötus, der mit viel Chance und grossem technischem Aufwand bereits ausserhalb des Körpers der Frau überleben kann (allerdings mit einem grossen Risiko bleibender Schäden). Übrigens zirkulieren zu diesen Entwicklungsstadien viele Fehlinformationen (z.B. sind die Organe nicht mit 8 Wochen fix fertig, sondern sie müssen sich noch weiter entwickeln. Die Lunge ist erst im 6. Schwangerschaftsmonat einigermassen funktionsfähig). Gefühlsmässig bewerte ich jedes dieser Stadien anders. Rational und philosophisch ist nach meinem Urteil ein entscheidender Punkt das Empfindungsvermögen. Erste Empfindungen sind auch frühestens im 6. Monat möglich
ABTREIBUNG IST NICHT MORD
Mord ist eigentlich kein moralischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Dieses Wort sollte nur verwendet werden, wenn die Tötung eines geborenen Menschen gemeint ist, und zwar mit besonders verwerflichen Motiven und auf besonders grausame Art.
Total unlogisch ist es, zu sagen Abtreibung ist Mord dann aber einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung als zulässig zu erklären. Wer so argumentiert, missbraucht das Wort Mord und glaubt selbst nicht wirklich, dass ein Embryo bereits ein Mensch ist. Niemand würde sagen, eine Frau dürfe ihr durch Vergewaltigung gezeugtes 5-jähriges Kind ermorden.
Unlogisch ist es auch zu sagen Abtreibung ist Mord gleichzeitig aber: Frauen, die abtreiben sind nicht Mörderinnen. Also bitte: achtet auf eure Wortwahl.
SPÄTABTREIBUNGEN
Die meisten Abbrüche (80% in Deutschland, in der Schweiz 95%) werden zwischen der 3. und der 10. Woche der embryonalen Entwicklung (5.-12. SSW) vorgenommen. Und ich denke, für alle Beteiligten ist es je früher, desto besser, sowohl was das körperliche Risiko wie die psychische Belastung betrifft. Nun gibt es aber seltene Fälle (etwa 2% der Abtreibungen), wo ein Abbruch auch noch im 4. Monat oder sogar später gemacht wird. Die Fälle, mit denen ich zu tun hatte, waren immer dramatischer Natur (meist schwere Missbildungen des Fötus, selten ganz junge Mädchen in prekären Verhältnissen oder andere totale Ausnahmesituationen).
Nun wird aber mit Vorliebe mit Spätabtreibungen und mit Bildern von Föten im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium gegen Abtreibung Propaganda gemacht. Klar: die Emotionen sollen angesprochen werden. Ja, Spätabtreibungen sind nichts Schönes und gehen einem nahe. Ich weiss nicht, ob ich selbst welche vornehmen könnte (ich komme nicht in die Lage, bin nicht Ärztin), aber ich kann nachvollziehen, dass es dafür triftige Gründe gibt. Nebenbei bemerkt: Ich mache auf meiner Website nicht, wie mir searching5 vorwirft, Werbung für Kliniken (zum Glück gibt es welche!!!), die Spätabtreibungen machen. Ich liefere bloss Links zu deren Webseiten, für den Fall, dass eine Frau in einer solchen Situation auf meiner Site Hilfe sucht.
Ich denke, eine Fristenregelung, die in den ersten Monaten den Entscheid bei der Frau belässt, für späte Abbrüche aber eine medizinische oder psycho-soziale Indikation verlangt, wird den meisten Situationen gerecht. Allerdings kommt das in der Praxis aufs selbe heraus wie eine völlige Legalisierung der Abtreibung ohne Fristen, wie sie Kanada kennt. Dort werden nicht mehr späte Abbrüche gemacht als hierzulande. Keine Frau, kein Arzt macht grundlos einen späten Abbruch.
PSYCHISCHE FOLGEN DER ABTREIBUNG?
lasier wirft mir vor: Wie man das Leid von unglaublich vielen Frauen, die an den Folgen ihrer Abtreibung leiden, einfach so ignorieren kann. Das sogenannte Post Abortion Syndrom sei eine Erfindung von Abtreibungsgegnern.... Berichte von solchen Frauen und Informationen kann man auf ... lesen
Niemand bestreitet, dass einige Frauen Mühe haben, einen Schwangerschaftsabbruch zu verarbeiten, einige sogar in Depressionen geraten. Allerdings muss man dabei immer die Umstände berücksichtigen, ob es nicht vielleicht auch andere Gründe gibt für ihre psychischen Probleme als den Abbruch als solchen. Ein Syndrom ist ein Krankheitsbild. Es gibt kein spezielles Krankheitsbild von Frauen nach einer Abtreibung. Wenn einige Frauen Trauer empfinden, so ist das noch lange keine Krankheit! Und im übrigen sind es nicht unglaublich viele die so empfinden, sondern eine kleine Minderheit. Aber es sind diese, die sich auf Webseiten und in Foren äussern; all jene, die kein Problem haben, haben viel weniger Anlass dazu.
Es ist eine Tatsache, dass das PAS von den amerikanischen Abtreibungsgegnern erfunden wurde, als sie mit ihren andern Argumenten nicht Erfolg hatten. Sie konnten sich damit ein frauenfreundliches Mäntelchen umhängen. Dass eine Geburt ebenso oft ernste Depressionen verursachen kann wie eine Abtreibung, wird geflissentlich verschwiegen (und noch viel öfter, wenn es eine ungewollte, erzwungene Geburt war!!!).
ZUM SCHLUSS NOCH @lasier
Du schreibst: die Infos auf der Schweizer Seite sind wirklich gefährlich, weil sie keine Grundlage haben.
Meine Seite ist eine der wenigen Seiten zum Thema Abtreibung, die ihre Grundlagen und Quellen angeben: Die Informationen basieren auf den grössten, fundiertesten und neuesten Studien (was medizinische und psychologische wie auch rechtliche Fragen angeht) sowie auf unzähligen philosophischen Quellen und Publikationen (ebenfalls angegeben).
http://www.svss-uspda.ch/de/abtreibung.htm
Du schreibst: Ich trete dafür ein, dass unsere Gesellschaft endlich aufgeklärt wird, was Abtreibung wirklich bedeutet.
Ich auch: Speziell ist es mir ein Anliegen, dass Frauen, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken, nicht mit Horrorgeschichten und Fehlinformationen drangsaliert werden, sondern objektive Informationen erhalten (auch über mögliche Hilfen, falls sie finanzielle oder praktische Probleme haben).
Lg Anne-Marie Rey