olivie_11910935:BIEN:
Liebe Calo,
ich finde auch deine weiterführenden Gedanken sehr interessant und wichtig. Die Tendenz anderen die Schuld zu geben, habe ich auch schon oft beobachtet und vor allem das Bestreben von Therapeuten "Schuldige" zu finden, fand ich immer sehr befremdlich.
Ich war sehr froh, dass meine ambulante Therapeutin, die mich nach einer abgebrochenen stationären Therapie "gerettet" hat, die Schuldfrage auch sehr kontraproduktiv fand. Es ging zwar schon um Auslöser, in der Kindheit erlernte bzw. angeeignete Strukturen und Strategien etc., aber dabei standen immer mein Handeln, Fühlen und Denken und meine Reaktionen im Mittelpunkt. Also nicht, dass es um ein vollkommen egozentrisches Bild der Entstehung der Magersucht ging, sondern dass bei allen ungünstigen Umständen das eigene Handeln und der eigene Umgang mit Gegebenheiten zur Ausprägung der Symptomatik geführt hat und somit auch nur man selbst etwas ändern kann. Oft kann man bestimmte Strukturen nicht vollkommen verändern, aber man kann seinen eigenen Umgang damit verändern.
Ich hoffe ich habe es jetzt nicht zu verworren ausgedrückt: Genau wie Calo bin ich der Meinung, dass man für sein eigenes Handeln verantwortlich ist und die Ursache für die Anorexie (unabhängig von äußeren "auslösenden Faktoren") in einem selbst liegt und in dem eigenen Umgang mit diesen "Faktoren". In diesem Sinne ist "auslösende" Faktoren vielleicht nicht ganz richtig, sondern eher "begünstigende" Faktoren.
Am meisten stört mich immer, wenn das moderne Schönheitsideal oder dünne Models für Anorexie verantwortlich gemacht werden - meiner Meinung nach neben der "die Eltern sind schuld"-Hypothese ein weiterer vorgeschobener "Grund", der die Auseinandersetzung mit den wirklichen Ursachen verhindert. Außerdem fühle ich mich durch die Schönheitsideal / dünne Models-Hypothese oder Eltern-Hypothese sogar immer sehr abgewertet und unverstanden. Ich habe nicht die Nahrung verweigert, um einem oberflächlichen Schönheitsideal gerecht zu werden oder weil ich keinen anderen Weg gesehen habe, mich von meinen Eltern abzunabeln, sondern ich habe diesen destruktiven Weg gewählt, um mit meiner Selbstunsicherheit, Lebensangst und Versagensangst umzugehen - als verzweifelter Versuch durch die Kontrolle des Essens das unkontrollierbare Leben scheinbar im Griff zu haben. Manchmal wäre es wirklich einfacher, jemandem die Schuld zu geben, als sich einzugestehen, wie viel Angst vor dem Leben in der Verweigerung des Essens steckt. Zumindest dann, wenn ich mir aus lauter Angst vor dem Versagen diese "Scheinkontrolle" zurückwünsche.
Es tut mir leid, mein Beitrag ist vielleicht gerade etwas negativ geraten, doch gerade diese in mir selbst liegenden Ursachen beschäftigen mich gerade wieder ganz arg. Denn obwohl ich seit ca. fünf Jahren ein sehr gesundes Essverhalten habe, sind die Gedanken, ist die temporäre Sehnsucht noch da.
Habt ihr euch auch schon mal die Frage gestellt, dass wenn die Ursache für die Anorexie in uns selbst liegt, wir sie nur schaffen vollständig loszulassen, wenn wir schaffen uns selbst zu ändern oder zumindest die auslösenden Faktoren in uns selbst durch andere Mechanismen zu besänftigen. SICH DEN EIGENEN ÄNGSTEN TAG FÜR TAG STELLEN, OHNE SICH VOR IHNEN IN DER ANOREXIE ZU VERSTECKEN... wird das irgendwann leichter? Kommt irgendwann der Tag, an dem diese Ängste in den Hintergrund treten, oder sind sie einfach ein Teil von einem selbst, den man auch nicht "wegtherapieren" kann?
Würde mich sehr freuen, wenn sich noch mehr für die Diskussion über "Personifikation der Krankheit" und die "Schuldproblematik" begeistern lassen. Denn ich finde eine Reflexion auf einer solchen Ebene immer so viel sinnvoller als den tausendsten Essensplan o.ä.
Liebe Grüße
Traumverloren