Liebe Corinna!
Zuerst möchte ich Dir sagen, dass ich Deinen Mut bewundere, über Deine Situation so offen und schonungslos zu schreiben. Es ist toll, dass Du sie objektiv beschreibst und nicht jemanden suchst, dem Du dafür die Schuld in die Schuhe schieben kannst - auch Dir selbst nicht.
Hast Du eine imaginäre Freundin oder einen Freund, den Du Dir in der Fantasie vorstellst, und mit ihr oder ihm redest? Wenn nicht, leg Dir eine(n) zu. Gib ihr (oder ihm) einen Namen. Sagen wir, es ist eine junge Frau, in Deinem Alter, sie heißt... Tina. Erzähl ihr etwas. Wie sich der Chef heute Kaffee auf die Hose geschüttet hat. Dass Du gerne einmal nach Indien fahren möchtest. Dass Paris Hilton eine blöde Kuh ist (Ich fantasiere da et-was zusammen, um Dir zu erklären, wie ich das meine). Du kennst Tina noch kaum, hast sie nur ein- zweimal gesehen. Jetzt triffst Du sie im Bus. Frag sie was Harmloses ("Wo hast du den Pulli her? Der schaut echt cool aus") Menschen werden gerne gefragt, wenn's nichts Peinliches ist. Sie fühlen sich dann beachtet. Jeder will beachtet werden, jeder möchte, dass man registriert, dass es ihn gibt. Tina ist auch schüchtern, also musst Du sie ein bisschen aus der Reserve locken. Frag sie nach ihrer Meinung zu etwas, was gera-de in aller Munde ist. Schau sie an, wenn sie redet. (Das musst Du alles in Deiner Fanta-sie tun, Tina ist ja nicht real). Stell Dir ihre Antwort vor. Sag was darauf. Wenn Tina das Gefühl hat, Dich interessiert ihre Meinung, wird sie von Dir begeistert sein. Versuch, Dich in Tina "hineinzudenken", stell Dir vor, Du bist sie, und Du siehst Dich selbst mit ihren Augen (und den dazugehörigen Gedanken) Du musst jetzt aussteigen. Sag was Nettes: "Tschüss, bis zum nächsten Mal" ist schon nett genug. Tina weiß jetzt, dass sie beim nächsten zufälligen Zusammentreffen nicht den Wunsch zu haben braucht, vor Verlegen-heit aus dem fahrenden Bus springen zu müssen. Und Du auch.
Du hast jetzt den Ansatz zu einer imaginären Bekanntschaft gemacht, und morgen spinnst Du die Geschichte weiter. Denk daran, dass das Entstehen einer Bekanntschaft oder Freundschaft ein Tauschhandel ist: Interessierst du dich für mich, interessiere ich mich auch für dich. Deine Aufmerksamkeit gegen meine. Ich geb dir eines meiner Ge-heimnisse, und ich bekomm dafür eines der deinigen.
Wenn Du mit der nicht existierenden Tina vertraut bist, mach das Spiel mit jemandem, den es wirklich gibt - aber vorerst in der Fantasie. Sagen wir, eine Arbeitskollegin, die Du passabel findest. Plauderei im Bus; Gespräch in der Mittagspause. Dann mach Dir einmal daheim einen gemütlichen Abend (wirklich, nicht in der Fantasie). Duftender Tee oder ein Glas Wein, vielleicht ein Schnäpschen oder meinetwegen einen Joint. Stell Dir vor, die Kollegin ist auch da. Rede mit ihr; wenn das möglich ist, also wenn Du allein bist in der Wohnung oder so, sprich mit Deiner wirklichen Stimme. Wenn Du einen dazu geeigneten Recorder, Computer oder MP3-Player hast oder ein Diktiergerät, nimm auf, was Du sagst. Es kann der größte Unsinn sein, es geht jetzt darum, DASS Du sprichst und auch WIE Du sprichst, nicht WAS. Hör es Dir dann an. Es wird anfangs wahrscheinlich unsicher, unecht klingen. Begnüg Dich nicht damit, "Oh Gott, furchtbar" zu sagen und die Kassette ins Klo zu werfen. Überlege, was Du besser machen kannst und übe das.
Wenn Du allein bist, sprich mit Dir selbst, kommentiere, was Du tust, singe, fluche. Ge-wöhne Dich an Deine Stimme, mach Dich mit ihr vertraut.
Beobachte Menschen, die (zumindest einigermaßen) so sind, wie Du sein möchtest (Kann auch ein Film sein, wenn die Schauspieler gut sind.) Was tun sie mit ihren Händen beim Sprechen? Wie ist ihre Körperhaltung? Wo schauen sie hin, wie oft sehen sie ihren Ge-sprächspartner an? Was gefällt Dir an dem, wie sie sich verhalten?
Hilfreich ist ein möglichst großer Spiegel, in dem Du Dich beobachten kannst. Du bist allein, nichts und niemand stresst Dich, es besteht keine Notwendigkeit, dass Du Dich "richtig" verhältst. Benimm Dich "normal" oder schneide Grimassen, ahme jemanden nach, verarsche Victoria Beckham und Angela Merkel. Lächle, mach eine Schnute, schau böse. Zucke die Schultern, wackle mit dem Po, tanz Dir einen ab. Sag laut und deutlich: Hey, Corinna, du bist eine tolle Frau. Und zwar so oft, bis Du weißt, dass es stimmt. Soll-test Du eine Videocamera zur Verfügung haben (oder Computer+Webcam), wär das ganz super. Du sollst weder jemanden imitieren noch etwas einstudieren. Es ist wichtig, dass Du Dich kennst - Deine Stimme, Dein Gesicht, Deinen Körper, Deine Art, Dich zu bewe-gen. So kannst Du das fürchterliche Gefühl loswerden, dauernd alles falsch zu machen.
Wenn Du in der Fantasie wieder jemanden zum Tee oder Essen einlädtst, bist Du Dir selbst viel vertrauter. Dadurch bist Du freier, ungezwungener, natürlicher. Du wirst Dich dann sicher viel lieber haben.
Lass Dir Zeit. Zwinge Dich nicht, wenn Dir einmal nicht danach ist; mach es nicht mit halbem Herzen. Nach den ersten Malen, wo Du Dir vielleicht blöd vorkommst, macht's Spaß.
Dann kommt der große Elch-Test: Setz das, was Du gelernt und an Dir selbst kennen gelernt hast, scheibchenweise in die Wirklichkeit um. Fang an beim Grüßen. Wenn Du zur Arbeit kommst, grüß die Kollegen hörbar und deutlich, und, wenn's Dir nicht allzu schwer fällt, einigermaßen beschwingt. Schau in die Runde; lächle, das tut allen - besonders Dir - gut. Du hast ja schon bei Deinen "Übungen" entdeckt, dass Du ungezwungen lächeln kannst. Freundlich lächelnde Menschen sind IMMER schön.
Wenn Du mit jemandem sprichst, schau ihn/sie dabei an. Du kannst das bei Leuten üben, die Dir an sich ganz egal sind - eine Verkäuferin zB. Frag eine(n) Fremde(n) um eine Auskunft (nach einer Straße oder so). Probier das daheim ein paar Mal alleine, dann tu es "im wirklichen Leben". Menschen freuen sich, wenn sie etwas gefragt werden (hab ich schon einmal gesagt). Schau ihn/sie an, wenn Du fragst, und auch wenn er/sie antwor-tet. Da gibt es einen Trick: Du schaust durch Deinen Gesprächspartner hindurch, dh Du stellst die Augen so ein, als würdest Du auf etwas weit hinter ihm gucken. Dann siehst Du den anderen verschwommen und doppelt, und es ist nicht mehr (so) peinlich.
Das ist kein kindischer Blödsinn. Es ist die normale Art, etwas zu lernen. Man muss sich etwas erst vorstellen können, bevor man es auch tun kann. Wenn einer Chirurg werden will, muss er erst Operationen in der Fantasie abspulen, sonst Adieu, lieber Patient.
Die Ursache Deines Problems sitzt tiefer, und sie wird nicht allein dadurch beseitigt, dass Du Deine Kontaktscheu überwindest. Wenn es Dir gelingt, mit Deinen Mitmenschen un-beschwerteren Umgang zu haben, fühlst Du Dich auf jeden Fall wohler. Auch der kleinste Schritt dazu ist ein Erfolg. Wenn Du am Abend sagen kannst: Heute habe ich etwas ge-macht, was ich mich bisher nie getraut habe, dann kannst und sollst Du stolz darauf sein. Morgen ist auch noch ein Tag. Es wäre gut, wenn Du therapeutische Hilfe suchst, um das aufzuarbeiten, was Dich in Deine jetzige Lage gebracht hat. Als Vorbereitung dazu baue Deine "Sprachlosigkeit" ab. Du kannst das. Tu es für Corinna, sie ist für Dich der wich-tigste Mensch auf der Welt. Und mit jedem Schritt, den Du schaffst, wird Dich Corinna mehr lieben.
Alles Liebe
Pingui