Das Mutti
Meine geheimnisvolle Verwandlung vollzog sich an einem ganz normalen Montag, morgens um 7.17 Uhr, von einer Minute auf die andere. Aus der Spezies "Frau" (w., besondere Kennzeichen: leichtsinnig, fröhlich bis albern, sinnlich, kapriziös, attraktiv, witzig mit einem Hang zum Luxus und zum schönen Phlegma) wurde die Gattung "das Mutti" (s., besondere Kennzeichen: bieder, belastbar, besorgt, ernsthaft, genügsam, nervös, 24 Stunden voll im Einsatz). Das Mutti ist streng geschlechtsneutral und kommt überall auf der Welt vor, gehäuft auf Kinderspielplätzen. Zu erkennen ist das Mutti an seiner bellenden oder schrillen Tonlage: "Stefan! Sofort runter da, sonst setzt es was!", und an einem rastlosen Betätigungsdrang (bevorzugte Tätigkeiten: stricken, Rotz abwischen, backe-backe-Kuchen machen, Mützen ab- und aufsetzen, Apfelsinen schälen, Fläschchen schütteln, Küsschen oder Kniffe verteilen). Sitzt das Mutti wider Erwarten mal ganz ruhig da, ist zumindest der Fuß in Bewegung: Der schaukelt den Kinderwagen. Das Mutti tritt niemals allein auf, sondern ist stets rudelweise von seinen Jungen umgeben. Sind diese noch klein, trägt das Mutti sie in einer textilen Ausbuchtung vor Bauch und Rücken geschnallt (ähnlich dem australischen Känguru, jedoch bewegt sich das Mutti nur selten hüpfend vorwärts). Wenn die Jungen größer sind und aufrecht gehen könne, übt es geduldig die Tätigkeit des "Spazierenstehens" aus. Während das Mutti-Junge sich im Matsch suhlt, jedes Steinchen auf seine Verwendbarkeit untersucht, Grashalme frisst oder tiefsinnig sein Spiegelbild in Pfützen betrachtet, bleibt das Mutti einfach stehen. So verbringt es einen Großteil seiner Zeit, in Kälte und Nässe ausharrend, stumm, schicksalsergeben.
Mutti ist Frau nicht von Geburt an, zum Mutti wird sie gemacht. Viele Frauen bezeichnen diese Vorgang als äußerst lustvoll, wahrscheinlich gibt es deshalb so viele Muttis in der Welt. Die wenigsten machen sich klar, was die Mutti-Metamorphose bedeutet. Auf jeden Fall ist es ein irreversibler Prozess: Einmal Mutti - immer Mutti. Was sich darin ausdrückt, dass manche "Vatis" (m., besondere Kennzeichen: oft aushäusig, meist paschamäßig auf Draht und windelmäßig unerfahren, auch - oder gerade - nach der Geburt der Jungen unentwegt um die begehrenswertere Spezies "Frau" herumbalzend) es fortan neutral "Mutti" nennen. Für die Aufzucht sind stets wir Muttis allein zuständig - eine Aufgabe, in der wir für den Rest unseres Lebens aufzugehen haben. Durchdrungen von der existentiellen Wichtigkeit des Brutpflegebetriebs, werden wir durch ständige Adrenalinausschüttung offensichtlich jahrelang zu Höchstleistungen angetrieben. Einem Mutti - und darin erweist sich die ausgesprochene Widerstandsfähigkeit dieser äußerlich schutzbedürftigen, innerlich aber erstaunlich zähen Gattung - macht es nichts aus, drei bis viermal pro Nacht das warme Nest zu verlassen, um die brüllenden Jungen mit Nahrung zu versorgen. Ein Mutti ödet es nicht an, täglich den immergleichen Brei zu bereiten und den immergleichen Spielplatz mit den immergleichen mit-Muttis aufzusuchen und dort die immergleichen Gespräche zu führen. Wer sich als Artfremder mit uns Muttis unterhalten will, fühlt sich binnen kurzem außen vor. Haben wir Muttis doch eine Art Geheimcode entwickelt, mit dem wir uns mühelos untereinander verständigen: Da wimmelt es plötzlich von Worten wie Strampelpeterfixies, Paidi, Peaudoux oder Oshkosh, es gibt Duplos, den Snuggli, den Schniedelwutz oder den Pipimann, die Tuttutbahn, das tatütata und das hoppehoppe, da schwirren so exotische Begriffe durch die Luft wie "abgartest", "Phimose", "Urvertrauen", "rechtsdrehender Joghurt" oder "Dreimonatskoliken". Kurz: Besonders Jung-Muttis, die sich in ihrem früheren Dasein als Frau profiliert haben, indem sie ihr Abi mit 1 und ihr Examen mit "cum laude" gemacht haben, machen in der Regel eine seltsame intellektuelle Regression durch. Wie alle Muttis dieser Welt verfallen sie in eine Art frühkindlicher Stammelsprache, deren Hauptbestandteil das Diminuitiv ist ("Will Dodolein jetzt Heiaheia machen? Aber erst kriegt Dodolein noch ein Küssilein..."). Die Muttimetamorphose ist in allen Bereichen des täglichen Lebens spürbar. Statt "Die Liebe in Zeiten der Cholera" liest das Mutti jetzt "Häschenschule", statt raffiniertem "Kaninchen in Senfsauce" bereitet es gesunden, salzlosen Blumenkohl, statt zu Kabarett geht es ins Kindertheater zu "Peterchens Mondfahrt". Und beim Shopping halten wir Muttis nicht etwa nach einem gepunkteten Rock für uns, sondern nach einer strapazierfähigen Latzhose für das Jüngste Ausschau, genügsam wie wir nun mal sind.
Am verblüffendsten aber ist die optische Verwandlung des Muttis. Knallenge Calvin-Kleinjeans, spitzenbesetzte BHs unter schimmernden Seidenblusen, verführerische Stöckel oder ausgeflippte 50er Klamotten - alles passe. Das Mutti, ewig mit Brei bekleckert und ewig in Zeitnot, hat sein farbenfrohes Kleid abgelegt, mit dem es einst Vati zur Balz aufforderte. Bequeme Jeans, Turnschuhe, einweites Sweatshirt - so etwa sieht der Einheitslook des mitteleuropäischen Mutti-Tiers aus - Verhaltensforscher sprechen inzwischen schon von einem deutlich ausgeprägten "Mimikri-Effekt": Je grauer und eintöniger der Alltag des Muttis zwischen Küche-Kacke-Kindergarten ist, desto grauer und einfallsloser kleidet es sich. Und Vati? Vati, der all das gewollt und verursacht hat? Vati schmollt. Er fühlt sich, zumindest im ersten Jahr, um all das betrogen, was ihm bis dahin lieb und teuer war: seine ungestörte Nachtruhe. Sein geregeltes Sexualleben. Seine spontanen, ausgedehnten Kneipentouren. Seine saubere, untadelig aufgeräumte Wohnung. Seine stets perfekt angezogene Vorzeigefrau. Seine Vorrangstellung im Herzen derselben. Statt dessen sitzt er da mit diesem völlig fremden Wesen, dem Mutti, und leidet unter dem sogenannten "Babyschock"-Symptome: nächtliche Schweißausbrüche bei der ersten lautstarken Unmutsäußerung des Babys, ein heftiges, langanhaltendes Gefühl der Unzulängllichkeit dem Mutti gegenüber ("Was zum Teufel ist teiladaptierte Milch...?) und das Ausgeliefertsein, das oft klaustrophobische Züge annimmt ("Hier komm ich nie mehr raus, das geht jetzt 20 Jahre lang so weiter), nie gekannte seelische Wechselbäder von unbändigem Stolz bis zu ohnmächtiger Wut. Unter dieser Schockeinwirkung - also im Stadium der Unzurechnungsfähigkeit - erliegen manche Väter gern der nächstbesten Versuchung, deren Name "Weib" ist, und trennen sich vom Mutti. Doch es nützt nicht. An einem x-beliebigen Mittwoch um 13.33 Uhr, ist es mal wieder so weit: Ein zarter Schrei - und aus einer Frau wird ein "Mutti"...
So war es und so sei es!