Ich bin eine willensschwache Person. Und ich hasse mich dafür. Weil ich willensschwache Personen grundsätzlich hasse. Sie haben keinen Charakter und tun immer das Gegenteil von dem, was sie wirklich tun wollen. Sie sagen ja, wenn sie nein meinen, und nein, wenn sie ja meinen. Widerlich!...
Sie prostituieren sich für Schmeicheleien und hohle Versprechungen, hängen ihr Fähnchen in den Wind und geben Judasküsse. In diesem Zusammenhang nehmen sie mit dankbaren Worten auch Einladungen zu Festivitäten an, die sie im Grunde verabscheuen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn letzte Woche hat Gerda mich wieder angerufen, und zu ihrer alljährlich stattfindenden Geburtstagsfeier eingeladen. Natürlich habe ich zugesagt.
Gerda habe ich in der Volkshochschule kennengelernt. Ich absolvierte einen Italienisch-Kurs dort. Wegen Roberto. Wie sein Name vermuten läßt, war er Italiener. Dramaturgisch passend hatte ich ihn in einer italienischen Eisdiele kennengelernt. Unter lautstark gurgelnden Geräuschen saugte ich den Rest meines Eiskaffees durch den Plastikhalm und schaute verlegen um mich, als der Blick eines dunkelgelockten Mannes am Nebentisch wie ein Blitz in mich hinein schoss.
Er sah aus wie Adonis, lächelte, stand auf und kam auf mich zu. Ciao! Mehr sagte er nicht, sondern setzte sich auf den Aluminiumstuhl neben mir und hypnotisierte mich mit seinen mittelmeerblauen Strahleaugen.
Er studierte Germanistik und wollte mich unbedingt seiner Familie vorstellen, die in Mailand lebte und kein Wort Deutsch sprach. Aus diesem Grund machte ich auf der Volkshochschule diesen Kurs, der allerdings länger dauerte als das Techtelmechtel mit Roberto.
Gerda teilte damals die Bank mit mir und hatte vom ersten Tag an einen Narren an mir gefressen, was mir überhaupt nicht behagte. Sie lachte laut und oft, hatte nicht viel Grips, erzählte vor der gesamten Klasse ungeniert Zoten aus ihrem Leben im allgemeinen und von ehemaligen Liebhabern im speziellen. Gerda ging mir unglaublich auf die Nerven.
Sie stammte aus ärmlichen Verhältnissen, verdiente ihre Brötchen als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt und war auf der Suche nach einem reichen Mann, weil sie keinen Bock hatte, ihr ganzes Leben zu arbeiten. Das gab sie ganz offen zu. Auch das nervte mich. Diese Frau sagte einfach immer und ungeschminkt, was sie dachte und fühlte. Ohne Rücksicht auf das Gemüt anderer. Das Kleid steht dir überhaupt nicht, du siehst darin aus wie ne alte Jungfer!, meinte sie beispielsweise damals, als ich mit verhaltenem Stolz mein neues, mit kleinen Punkten übersätes Seidenkleid erstmals der Öffentlichkeit präsentierte.
Zunächst war ich sauer auf sie, dachte dann aber nach und mußte mir zähnekirschend eingestehen, daß ich sie um diese Unverblümtheit beneidete. Denn die war mir konsequent aberzogen worden. Entweder du sagst etwas Nettes oder schweigst, hatte meine Mutter mir mit auf den Weg gegeben.
Da Gerda mich zu ihrer besten Freundin erkoren hatte, rief sie mich mindestens einmal die Woche an, um mit mir ins Kino zu gehen. Rührfilme meistens. Jenseits von Afrika beispielsweise. Während Robert Redford Meryl Streep küsste, schniefte Gerda beglückt vor sich hin, verbrauchte mehrere Papiertaschentücher und fraß in den Tränenpausen eine Familienpackung Lakritzschnecken.
Anschließend suchten wir eine Cocktailbar in der Innenstadt auf. Gerda war fest davon überzeugt, auf diese Art und Weise ihrem potentiellen Gatten über den Weg zu laufen. Sie machte kein Geheimnis daraus, im Gegenteil. Die ganze Volkshochschulklasse war darüber informiert.
Da ich zu feige war, ihr einen Korb zu geben, traf ich mich regelmäßig mit ihr. Am späteren Abend hing ich dann an irgendeinem Tresen, schlürfte Whisky sour, ließ mich von ihrem nie enden wollenden Geschwätz berieseln oder belauschte zwangsläufig die ewig gleich ablaufenden Dialoge mit irgendwelchen Kerlen.
Bei solchen Gelegenheiten gab sie normalerweise ihre nachgeplapperten Lebensphilosophien zum besten. Beispielsweise diese: Alle Männer sind schwanzgesteuert. Stimmts, Uli? Zustimmung heischend peilte sie erst mich, dann den jeweiligen Galan an. Und eine kluge Frau macht sich das zunutze! Sie schüttete sich aus vor Lachen und schwenkte das Glas.
Der Galan lachte ebenfalls und spendierte ihr einen weiteren Drink - immer von der Hoffnung beseelt, sie anschließend auf die Matratze zu legen, um dort ihre These zu bestätigen.
Das allerdings war ein Trugschluss, denn Gerda hatte ihre Prinzipien. One-night-stands kamen für sie nicht in Frage. Auf der Suche nach dem Millionär war sie absolut konsequent.
Den lernte sie eines Tages tatsächlich kennen. Einen kleinen, dicklichen und reichen Anlageberater mit hervorstehendem Oberkiefer. Allerdings war sie ihm nicht in einer ihrer Vorzugslokalitäten begegnet, sondern in der Praxis. Ihr Chef hatte ihm einen vereiterten Weisheitszahn gezogen, und sie hatte dem wimmernden Typen Händchen gehalten. Daraufhin ging die Geschichte genauso weiter, wie derartige Geschichten manchmal eben weitergehen. Sie heirateten, und ich dachte, ich sei sie los. Von wegen!
Die Einladung zu ihrer Hochzeit hätte ich aufgrund meiner Willensschwäche mit Sicherheit angenommen, aber just zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen Tennisurlaub in Marokko gebucht und musste absagen.
Leider, leider, bedauerte ich scheinheilig durchs Telefon.
Schade! kreischte sie fröhlich zurück. Wird bestimmt n klasse Fest!
Ein halbes Jahr später hatte sie Geburtstag. Den wollte sie feiern, mit großem Pomp, wie sie mir versicherte. Ich verabscheue solche Veranstaltungen, weil normalerweise kein vernünftiges Gespräch zustande kommt, man sich den ganzen Abend mit langweiligen Personen über langweilige Themen unterhält, sich infolgedessen nur mit Alkohol einigermaßen über die Runden bringen kann und anschließend Gefahr läuft, vor einem Gesetzeshüter in das legendäre Röhrchen blasen zu müssen.
Ich ging natürlich trotzdem hin. Mit einem Blumenstrauß und einem Liebesroman von Rosamunde Pilcher setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Bogenhausen. Denn dort wohnten sie - sie und ihr Gatte. Wo sonst? Ich drückte den Klingelknopf.
Gerda riß die Tür auf. In einem hautengen Seidenanzug mit tiefem Ausschnitt und goldenen Klunkern an Ohren, Hals und Fingern stand sie vor mir und rief: Mensch, Uli! Prima, dass du da bist.
Dann zerrte sie mich in die riesige, marmorgeflieste Eingangshalle, wo teuer gekleidete Menschen herumstanden und Champagner tranken. Was sonst?
Mit wedelndem Blumenstrauß bahnte sie sich den Weg durch die Menge und brüllte: Das ist meine Freundin Uli. Wir kennen uns von der Volkshochschule. Stimmts, Uli? Sie knallte mir ihre Hand auf den Rücken, ihre Jacketkronen strahlten, und ich wettete mit mir, daß sie jetzt gleich die Geschichte von Roberto zum besten geben würde. Wette gewonnen!
Sie war damals unsterblich verliebt ... in einen scharfen Italiener ... stimmts, Uli? Sie stampfte mit dem Fuß auf den Marmor und hielt sich vor Lachen den Bauch. Roberto, deine grande amore ... stimmts, Uli?
Sie machte den Affen aus mir. Die Leute starrten mich sensationslüstern an, und ich wäre am liebsten wie Jeanie in einer der leeren Champagnerflaschen verschwunden.
Uli hat einfach Pech mit Männern. Immer sucht sie sich die falschen aus. Stimmts, Uli?
Gerda machte ungebremst weiter, während sich die Kerzenflammen in ihren teuren Zähnen spiegelten.
Aber irgendwann kommt schon noch der Richtige, versuchte sie mich aufzuheitern. Ich hab ihn ja schließlich auch gefunden. Stimmts, Martin?
Abermals schoß sie eine Lachsalve ab und warf ihrem dicklichen Ehemann eine Kußhand zu. Dieser nickte gequält, nahm ein Schlückchen Champagner und blickte ertappt um sich.
Anschließend stellte sie mich allen (wirklich allen ... es waren mindestens dreißig Leute!) persönlich vor und erklärte noch mal jedem ausdrücklich, dass ich ihre beste Freundin sei.
Nach einer halben Stunde läutete dann ein mit schwarzem Kleid und weißem Spitzen-Halbschürzchen bekleidetes Dienstmädchen zu Lachs, Kaviar und anderem teuren Zeug.
Während des Essens erzählte Gerda lautstark und von Lachanfällen geschüttelt abgedroschene Blondinenwitze.
Mein Blick suchte ihren Mann. Der saß am Kopfende auf einem Gobelinstuhl, Gabel in der einen, Glas in der anderen Hand und widmete seine Aufmerksamkeit einem imaginären Fleck an der Wand.
Anschließend führte sie ihr Geburtstagsgeschenk vor. Ein maßgefertiges Abendkleid von Mooshammer. Was es gekostet hatte, konnte sie natürlich auch nicht für sich behalten.
Zwölftausend Mark, schrie sie begeistert. Zwölftausend Mark! Hab ich nicht einen großzügigen Mann? Kleine Pause, bewusst eingelegt, um bedeutungsvoll in die Runde zu schauen. Aber fragt nicht, was ich dafür tun muss!
Sie machte eine eindeutige Handbewegung, quietschte vor Begeisterung und warf ihrem Gemahl erneut eine Kusshand zu. Der grinste verlegen, ohne seinen Blick von der Wand zu nehmen.
Ich langweilte mich tödlich.
Meine Tischnachbarin zur Rechten gab keinen Ton von sich, sondern drehte die ganze Zeit ihren mit Brillanten besetzten Ring um den Mittelfinger und kippte ein Glas Wein nach dem anderen in sich hinein. Zwischendurch schaute sie mich missmutig an. Der Tischnachbar zur Linken war Kettenraucher und ließ sich auch durch noch so demonstratives Hüsteln meinerseits nicht davon abhalten, eine Zigarette nach der anderen anzuzünden. In denselben Zeitabständen blickte er unverhohlen auf seine Armbanduhr.
Kurz und gut, der ganze Abend verlief genauso wie ich befürchtet hatte. Um Viertel nach elf verabschiedete ich mich, fuhr frustriert nach Hause, und nur der Vorsatz, dieses Haus nie wieder zu betreten, besänftigte die Abscheu über meine Willensschwäche wenigstens ein bisschen.
Danach war ich noch genau dreimal bei Gerdas Geburtstagsfeier. Jedesmal fand dasselbe Affentheater statt, und jedesmal verließ ich die Veranstaltung mit demselben Vorsatz.
Und jetzt fahre ich schon wieder hin!
Der Gehsteig vor dem Haus ist mit den obligatorischen Nobelschlitten der Gäste zugeparkt. Dagegen macht sich mein Kleinwagen so richtig mickrig aus. Ich parke ihn um die Ecke, klaube unwillig den Blumenstrauß vom Beifahrersitz und mache mich auf den Weg.
Dieses Mal reißt nicht Gerda die Tür auf, sondern ein älterer Herr, dessen Hände in weißen Handschuhen stecken, öffnet sie behutsam. Augenscheinlich ihre neueste Errungenschaft, ein Butler. In devoter Haltung geleitet er mich in die Eingangshalle, mitten hinein in die an Champagnergläsern nippende Gästeschar.
Hi, Uli! Klasse, dass du da bist! schallt es aus der Menge. Gerda poltert auf mich zu und drückt mich an ihr, mit einem mehrreihigen Perlenkollier behängtes, tief ausgeschnittenes Dekolleté. Der Gestank eines teuren Designerparfüms strömt aus der Tiefe ihrer Brüste, so ekelhaft süßlich, daß ich befürchte, gleich in ihren Ausschnitt kotzen zu müssen.
Das ist Uli, meine Freundin, plärrt sie, den Arm besitzergreifend um meine Hüften gelegt. Wir kennen uns von der Volkshochschule. Stimmts Uli?
Ja, stimmt! sage ich mit fester, lauter Stimme und gebe mir einen Ruck. Ich war damals unsterblich in Roberto verliebt ... einen scharfen Italiener. Stimmts Gerda?
Die Menge hört schlagartig auf zu murmeln und schaut mich irritiert an.
Allerdings dauerte die Sache nur ein paar Wochen, mache ich weiter. Aber er war ein phantastischer Liebhaber ... der beste, den ich je hatte.
Mit einfältigem Gesichtsausdruck und leicht geöffnetem Mund hängt Gerda an meinen Lippen, die sich wie von selbst weiter bewegen.
Ja ... und er hatte überhaupt kein Geld. Aber Geld allein macht auch nicht glücklich. Stimmts Gerda?
Ich lächle nett, drücke ihr meinen Blumenstrauß in die Hand und gehe zur Ausgangstür.
Drei Jahre ist das jetzt her. Seitdem wurde ich von Gerda nicht mehr eingeladen. Weder zu einem Geburtstag noch sonst einer Festivität.