durga_11854162Über die Verantwortung und das Zerbrechen
Habe mir alle Beiträge durchgelesen und war sehr gerührt über Deine Erfahrung, die Du mit Deinem Freund machst. Tief bewegt war ich auch von dem letzten Beitrag der "Jaltanien", die sehr viele fachliche und nüchterne Einsichten und Ratschläge gegeben hat. Danke.
Ich habe mich nach 12 Jahren Ehe entschlossen, meinen Mann, der notorischer Lügner ist, zu verlassen. Daß er einer ist, begriff ich erst vor kurzem -> in all den Jahren kam ich nicht einmal auf die Idee, daß alles worauf unser gemeinsames Leben aufgebaut war, eine Lüge ist. So perfekt war dieser Lügenkonstrukt und so tief der Wille in mir verwurzelt, es glauben zu wollen. Wir leben seit einigen Monaten sehr weit auseinander. Die Entscheidung zur Scheidung kam jedoch früher, u.zw. aus der Erkenntnis, daß ich es nicht mehr länger ertragen könnte, für sein Leben und für unser Leben alleine die Verantwortung zu tragen. Meine Eherollen erstreckten sich von einfüllsamen, geduldigen Begleiterin und ewiger Ratschlaggeberin über Finanzministerin, Detektivin, Wachhund, Krisenmanagerin, Schadensbekämpferin... und noch vielen anderen nur nicht einfach "Frau sein". Diese viele Aufgaben lenkten mich davon ab, die Realität in ihrer Vollständigkeit zu sehen und zu begreifen. Ich kann nicht behaupten, daß die Ehe immer schlecht war. Im Gegenteil, wir haben viel gelacht, am Anfang und zwischendurch, obwohl viele Krisen zu bewältigen waren. Wir sind beide sehr intuitive Menschen und haben uns auf einer Ebene gefunden, für die ich immer geglaubt habe, es sei eine Seelenverwandschaft. Auch eine Lüge und Selbstlüge? Es war ein Gefühl der Leichtigkeit und Sorglosigkeit, das er immer ausgestrahlt hat und welches auf meine Grundeinstellung traf, das das Leben nicht allzu ernst genommen werden soll. Daher schenkte ich vielen kleinen Lügen überhaupt keine Beachtung, bei schlimmeren Lügen stritten wir kurz und stürmisch, wie die Gewitter im Sommer, die gleich vorbei sind. Seine wirklich heftige Lügenzeiten hatte er immer in zyklischen Perioden von allen 2-3 Jahren. Dazwischen waren sozusagen "Normalzeiten". Die Zyklen wurden automatisch durch Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, Schulden, Krankheit, Angstzustände oder Alkoholsucht, begleitet, weil das Lügenhaus so gewaltig war, daß er es selbst nicht packen konnte. Irgendwie schienen die Pechsituationen auf ihm zuzufliegen, bis sie schließlich ein Dauerzustand wurden. Dann bemühte ich mich um Schadensbekämpfung, spielte Wachhund und begleitete ihm zu Therapien. Er wollte sich nie wirklich helfen lassen. "Es ist so schwierig! Das halte ich nicht aus! oder Du sagst es leicht!", waren seine Worte. Immerhin hatte ich das Gefühl, daß er auf mich anspricht und er mir zuhört. Zumindest für eine kurze Zeit. Die Teufelskreise fangen immer von vorn an, waren immer heftiger und länger, und wir drehten uns im Kreis. Mittlerweile habe ich sehr gutes Gespür dafür entwickelt, wann und was er lügt. Es war wie ein geladenes Energiefeld um ihn, welches alles in seiner Umgebung verschlungen hat, wie ein schwarzes Loch (das war die Lüge), dann kam die Sonne wieder, erstrahte den Himmel und gab mir die Hoffnung, daß er sich bessern würde (das war sein Gewinn aus der Lüge). Seine Geschichten und Seeleneinsichte gewannen mit der Zeit immer mehr Lücken und wurden unglaublicher und einfach nicht mehr zum Zuhören. Als die Liebe in mir starb hatte ich nur noch ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber diesen Menschen. Schuldgefühle hinderten mich noch jahrelang daran, ihm zu verlassen und ihm einfach fallen zu lassen, weil ich fest überzeugt davon war, er würde ohne mich auf der Straße landen. Dieses Bild konnte ich nicht ertragen. Dann nach ewig langer Selbsterlahmung sah ich mich da, allein, leer, schwach, ausgenutzt, mit einer unsicheren Zukunft und mit einem Menschen, auf den kein Verlaß ist. Auf einmal war nichts mehr lustig. Ich brach oft und unvermittelt in allen möglichen Situationen ins Weinen aus (beim Einkaufen, in der Arbeit...) Irgendwann wachte mein Überlebensinstinkt auf und dann arbeitete mein Verstand ganz klar und sachlich. Ich setzte ihm vor die Tür und brach jeden Kontakt mit ihm. Das war vor 8 Monaten. Als die Erkenntnis kam, daß er nicht auf der Straße landete sondern, eh im wohl behütteten Elternhaus und Familienkreis leben kann, war ich erleichtert. Und wütend, daß ich so naiv war über alle Jahre hinweg! Er klammerte sich trotzdem mit aller Kraft an mich, rief mich bis zu 10 mal am Tag in die Arbeit an und erzählte, ständig neue Lügen (daß er super Job bekommen hat, daß er ein Haus gekauft hat...usw.)Dann irgendwann daß seine Oma krebskrank ist und noch wenig Monate zu leben hat. Nach alldem, was wir durchmachten, glaubte ich das letztere auch nicht, bis ich von Bekannten erfuhr, daß dies wirklich wahr ist. Schließlich beteiligte ich mich bei ihrer Sterbebegleitung, weil sie mir sehr viel bedeutet hat. Er war sehr nett in dieser Zeit zu mir, wie am Anfang. Redete plötzlich nur Vernünftiges, Ernsthaftes Zeug, was ich von ihm nie gehört habe, und dachte, dieser traurige Anlaß hat ihm jetzt Gott sei dank zur Vernunft gebracht. Glück im Unglück, wie man so sagt. Nachdem sie starb, trennten wir uns freundlich und insgeheim machte ich mir Vorwürfe, daß ich ihm nicht verlassen hätte sollen, weil er mir am Boden zerstört erschien. Ich dachte in dieser Zeit sehr intensiv darüber nach, wie weit die Selbstaufgabe in einer Ehe gehen kann, darf, soll, fand aber keine Antwort. Da wir getrennt lebten, machte ich mich auf die Reise, insgeheim schmierte ich die Pläne darüber, die Wohnung und die Arbeit aufzugeben und zu ihm zurückzukommen. Als ich nach Hause kam, das ernüchterne Erlebnis eröffnete mir die Augen. Es warteten verschiedene Exekutionsverfahren im Briefkastl mit insgesamt einen sehr hohen Schuldenberg und er war kurz davor sich strafällig zu machen. Für mich kam alles wie aus dem heiteren Himmel. Danach der absolute Bruch und ich machte mich wieder ran, sachlich die Situation zu lösen. Er terrorisierte mich regelrecht mit seinen Anrufen, (die Gespräche waren ziemlich häßlich), reagierte sehr arrogant auf mein Hinterfragen nach Hintergründen, erklärte aber mit keinem Wort, wofür die Schulden, und es schien auch, daß es ihn überhaupt nicht interessiert. Seitdem will ich von ihm nichts mehr wissen. Der kleine Zugang, was ich zu ihm hatte, hat sich verschlossen. Er veränderte sich sehr stark. Ich erkenne ihm nicht mehr. Oder sehe ich ihm einfach mit anderen Augen? Trotzdem habe ich einen inneren Drang, ihm helfen zu wollen. Unser ganzer Familiennetz fleht ihm an, sich helfen zu lassen, aber er verwehrt jedem den Zugang ins Haus, oder er flüchtet und ist für Tage nicht auffindbar. Er sinkt weiter in seiner Lügenwelt, Schulden, Alkohol und findet erstaunlicherweise immer wieder Leute, die ihm glauben, Geld geben und so hält er sich am Leben. Dann ruft er mich an, sagt er wäre im Krankenhaus, wo er um sein Leben kämpft, er hätte Krebs, und welche Untersuchungen er gerade macht. Als nächstes informieren mich die Bekannten oder seine Eltern, daß er völlig betrunken in der Stadt herumlummert. Diese Situation ist für uns alle sehr, sehr schmerzhaft und energieraubend, es gelingt uns aber nicht, ihm aus seiner Märchenwelt zu wecken, und zu holen, niemand kann ihm mehr auf irgendeiner Ebene erreichen, weil er das im Grunde genommen nicht wirklich will. Ich denke mir, daß er noch nicht tief genug gefallen ist, um eine Hilfe zu akzeptieren. Aber wann ist der Boden erreicht? Meine tiefsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet, oder spielt er sie nur, um mein Mitleid zu erwecken? Ich weiss es nicht, und mittlerweile will ich es einfach nicht mehr wissen. Es war genug.
Alia, es würde mich interessieren wie es Dir ergangen ist. Deine Geschichte hat mich sehr berührt, weil ich mich in deinen Handlungen erkannt habe. Es wäre ratsam für Dich, einen Netz aufzubauen, wo Du selbst aufgefangen werden kannst, wenn du fallen solltest. Das ist nämlich sehr schmerzhaft. Und ich glaube auch, daß Du mit deiner Bereitschaft zur Selbstaufgabe darauf steuerst. Auf jeden Fall solltest Du in Deiner Bemühung ihm zu helfen, profesionelle Hilfe einholen und selbst immer bei Vernunft bleiben. Eine Lüge ist nur dann möglich, wenn man es selbst glauben will. Frage Dich z.B. warum willst Du überhaupt mit ihm sein? Was verbindet Euch? Was spricht er mit seinem Wesen und Lügen in Dir an? Wenn Du die Antwort darauf findest, frage Dich, wie lange kannst Du damit glücklich erfüllt sein?
Alles Liebe
Merlinmietze