Deutsche Linke: Die schmutzige Wahrheit
Auch wenn es deutsche Linke nicht wahrhaben wollen: Viele Arbeiter wählen konservativ, weil linke Parteien ihre Sorgen nicht abbilden. Eine Chance für Sahra Wagenknecht?
Ein Kommentar von Alan Posener, auf den ich gestoßen bin. Sehr gut geschrieben. Dieser Artikel hat mir ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert, weil ich an manche Kommentare unter bestimmten Beiträgen hier aug gofem denken musste und zum aktuellen Anlass bzgl. Frau Wagenknecht.
Macht sie ihm das Geschenk oder nicht? Wenn Oskar Lafontaine am Freitag seinen 80. Geburtstag feiert, könnte seine Ehefrau Sahra Wagenknecht ihre neue linke Partei präsentieren. Oder auch nicht.
Es hapert angeblich an den organisatorischen und finanziellen Details, die nicht Wagenknechts Stärke sind. Doch könnte eine Partei, die besser organisiert und finanziert wäre als ihr verunglücktes Massenorganisationsprojekt "#aufstehen", die deutsche Parteienlandschaft aufmischen? Vielleicht sogar in einem guten Sinn?
Zunächst klingt das unwahrscheinlich. Die von Lafontaine mitgegründete Linkspartei, die eigentlich die SPD nach links drängen sollte, um sich dann wieder mit ihr zu vereinen, ist gerade an dieser Aufgabe gescheitert. Da vor allem ihre außenpolitischen Positionen ein Bündnis mit der SPD und den Grünen auf Bundesebene unmöglich machten, verhinderte ihre schiere Existenz, wie Jürgen Trittin kürzlich feststellte, das Entstehen einer Regierungskoalition links der Mitte und garantierte damit die Dauerkanzlerschaft Angela Merkels. Wie sollte eine weitere Spaltung der Linken anders wirken, denn als Schwächung?
Die permanente Krise der Linkspartei offenbart allerdings eine schmutzige Wahrheit, die nur wenige Linke anerkennen wollen: Die Arbeiterklasse ist nicht links. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es progressive Intellektuelle definieren. Das ist keine wirklich neue Erkenntnis, aber Linksintellektuelle haben offensichtlich nach wie vor Probleme damit, aus dieser Erkenntnis Schlüsse zu ziehen.
Zu Zeiten der Studentenbewegung erklärten wir uns unsere durchschlagende Wirkungslosigkeit bei den Arbeitern mit der Manipulation des Bewusstseins durch die "Springerpresse". Warum die Bild bei den Arbeitern und Kleinbürgern ankam, wir aber nicht, das konnten wir uns nicht erklären.
Wer nicht von den Arbeitern gewählt wird, ist nicht links, sagt jetzt Lafontaine. Womit er ein vernichtendes Urteil über seine eigene Schöpfung spricht. Bei der letzten Bundestagswahl bekam die Linkspartei mit fünf Prozent weniger Arbeiterstimmen als die FDP mit neun oder die Grünen mit acht Prozent. Die meisten Stimmen bekam nach wie vor die SPD, aber mit nur noch 26 Prozent, die zweitmeisten die AfD mit 21 Prozent vor der Union mit 20 Prozent. Anders ausgedrückt: 50 Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen wählten Parteien, die für Linksintellektuelle einen Igitt-Faktor als "rechts", "konservativ" oder "neoliberal" haben, nur etwas mehr als ein Drittel wählte links.
Solche Erklärungen haben etwas Überhebliches
Ein klares Beispiel für "falsches Bewusstsein"? Für die nach wie vor bestehende Macht der "Springerpresse"? Solche Erklärungen haben etwas Überhebliches. Nach dem Motto: Ich als Intellektueller weiß, wie Arbeiter eigentlich denken und wählen sollten; ich werde nicht von den Medien manipuliert, die ich konsumiere; bei mir besteht kein Widerspruch zwischen meinem Bewusstsein und meinem So-Sein, auch wenn ich von der Klimakatastrophe rede und trotzdem in den Urlaub fliege, für Multikulturalismus bin und mein Kind dann doch lieber in eine Privatschule als in die örtliche von Migranten besuchte Grundschule schicke, SPD wähle, aber die Wohnung schwarz renovieren lasse.
Für die meisten Angehörigen des linken Bürgertums sind solche Widersprüche nicht existenziell. Für die Arbeiter schon. Zuwanderung bedeutet für sie nicht nur ein Problem bei der Schulwahl, sondern ständige Konkurrenz um Ressourcen: Jobs, Wohnungen, Kitaplätze, Sozialhilfe. Law and Order ist für sie ein sicherer Schulweg für die Kinder, keine Drogenbestecke auf dem Hinterhof, keine Dealer im Park nebenan; das ist wichtiger als die Frage, was Polizisten in Chats so von sich geben, oder ob sie die Klimakleber zu hart anfassen; wichtiger übrigens als die Klimafrage überhaupt, die abstrakt bleibt und konkret als Angriff auf das Auto, den Fleischkonsum, das Eigenheim – kurz: Die Statussymbole des gesellschaftlichen Aufstiegs – daherkommt; und erst recht wichtiger als Fragen der sexuellen Orientierung und der Genderidentität, über die sich Intellektuelle echauffieren.
Linke mögen den Nationalstaat für überholt halten; viele Arbeiter und Arbeiterinnen sehen in ihm ein Bollwerk gegen eine Globalisierung, die alles, von den im Land getätigten Investitionen bis zur Menge der benötigten ausländischen Arbeitskräfte, Managern überlässt, die nicht demokratisch legitimiert sind. Ein Bollwerk gegen supranationale Organisationen wie die Europäische Union, die existenzielle Entscheidungen in nächtlichen Sitzungen der Regierungschefinnen und Minister in Brüssel aushandelt, denen das eigene Parlament dann zustimmen muss.
Privilegierte, die die Gesellschaft erpressen
"Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will" – das war einmal die stolze Losung der Arbeiterbewegung, heute jedoch können privilegierte Gruppen wie Pilotinnen und Lokführer eher die Gesellschaft erpressen als Stahl- oder Automobilarbeiter, Kellnerinnen, Bauarbeiter oder Reinigungskräfte. Stahl und Autos kann man woanders produzieren, irgendjemand findet sich immer, der kellnern, putzen oder Baugruben ausheben kann. Agenda 2010, Hartz IV, Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Krieg und Inflation: Trotz Mitbestimmung und fast ununterbrochener Regierungsbeteiligung der SPD ist die Grunderfahrung der Arbeiter und kleinen Angestellten seit der Jahrtausendwende die der Machtlosigkeit.
Und eben die Sprachlosigkeit, weil die akademische Linke damit beschäftigt ist, einander in den sozialen Medien Sprachregelungen vorzuschreiben, sich identitätspolitische und genderbezogene Schlammschlachten zu liefern, und sich in postkolonialen Schuldbekenntnissen und Klimahysterie zu überbieten. Wenn diese Sätze Ihnen wie der Rant eines Reaktionärs klingen, dann liegt es vielleicht daran, dass in der letzten Zeit die Reaktionären die Stimmung unter den Arbeitenden besser erfassen als die Progressiven.
Wenn aber Sahra Wagenknecht mit einer Partei auftritt, die programmatisch tatsächlich diese Sorgen der Arbeiter und Plebejerinnen aufgreift; die nicht, wie die SPD, mehr Fürsorge anbietet, die immer an Bedingungen geknüpft ist, sondern endlich wieder mehr Macht verspricht, so könnte sie der AfD ernsthaft Konkurrenz machen. Eine Wagenknecht-Partei, die der AfD die Hälfte der Stimmen wegnimmt, würde die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zum Tanzen bringen; ja, vielleicht würde sie die alte Tante SPD selbst zum Tanzen bringen, die unter Saskia Esken und Lars Klingbeil zu einem technokratischen Schnarchverein verkommen ist, dessen sich August Bebel schämen würde.
Meine Partei wäre das nicht: Ich bin eine Ex-Linke, Hausbesitzerin und Angehörige der schnatternden Klasse. Aber gerade deshalb möchte ich endlich von links grundsätzlich herausgefordert werden. Insofern hoffe ich, dass Wagenknecht ihrem Mann eine Partei zum Geburtstag schenkt.
Orginal-Autor: Alan Posener
sauce: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-09/die-linke-oskar-lafontaine-sahra-wagenknecht-arbeiter