Ich habe ihn vor wenigen Monaten per Zufall auf einer Veranstaltung kennengelernt. Nach dem dritten Treffen war uns klar, dass wir nicht nur freundschaftliches Interesse aneinander haben. Er war noch nie in einer Beziehung, ich hatte eine ernsthafte Beziehung, die allerdings nach drei Jahren in die Brüche gegangen ist und mich so heftig getroffen hat, dass ich Abstand von Dating, generell, genommen habe. Er ist allerdings absolut mein Typ, wir haben viele gemeinsame Interessen, ähnliche Ansichten und können viele offene Gespräche haben.
In der Kennenlernphase hat er mir bereits von seiner Krankheit berichtet, er ist aufgrund einer progressiven angeborenen Krankheit und eines Unfalls nicht gehfähig und nutzt daher einen Rollstuhl. Er erzählte mir, er sei quasi den ganzen Tag unterwegs, erzählte von Städtetrips, seinen Freunden, die er als neu Zugezogener bereits gefunden hat, von seinen Hobbies, die von Sport bis zu Besuch von kulturellen Veranstaltungen reichen. Er meinte auch, dass er nur nicht gehfähig, sonst aber fit ist und dass er wohl immer eingeschränkt sein wird, aber viel trainier, damit er in der Zukunft wieder stehen und kurze Strecken mit Gehhilfe schaffen kann. Dies erzählte er ohne Nachfrage meinerseits, da ich persönlichen Themen in der Kennenlernphase eher nicht anspreche - viele Menschen benötigen dafür eine Vertrauensbasis, die es erst aufzubauen gilt.
Die ersten Treffen waren toll, wir waren viel unterwegs, ich besuchte ihn und seine Mutter auch in ihrer Wohnung, blieb über Nacht und wir kamen uns näher. Oft verbrachten wir die ganze Nacht mit Gesprächen, der Film, der im Hintergrund lief, war vollkommen uninteressant, wir schenkten uns gegenseitige volle Aufmerksamkeit. Irgendwann merkte ich aber, dass etwas nicht stimmt... und dass es ihm weniger gut geht, als er mir beim ersten Treffen beschrieb. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber der Schein ließ sich nicht ewig aufrecht erhalten. Manchmal war er so erschöpft, dass wir unseren Ausflug nach einer halben Stunde abbrechen mussten - er war oft sehr müde und gab dann zu, dass er heftige Schmerzen hat. Wir haben dann viel Zeit bei ihm zuhause verbracht.
Bei einer Untersuchung erfuhr er, dass sein Zustand sich verschlechtert hat und dass er nicht mehr gehfähig werden wird. Nach diesem Tag war er verändert und wirkte verzweifelt... er sagte mir sogar direkt, dass er dieser Diagnose gerne gehabt hätte, bevor er sich auf unsere Beziehung eingelassen hat.
Natürlich kann ich mich nicht in seine Situation hineinversetzen, aber es bricht mir das Herz, dass er solche Zweifel hat und dass meine Anwesenheit ihn noch unzufriedener macht. Er fragte mich mehrmals, ob ich seinen Körper und seine Einschränkungen nicht als unattraktiv empfinde, ob er irgendwas machen könnte, damit er besser aussieht... und er erzählt oft, was er gerne mit mir machen würde, wenn er "normal" (seine Wortwahl) wäre... viele Reisen, Wandern, Camping, Festivals. Ich habe auch den Eindruck, dass er meine Freunde nicht treffen möchte, leider. Ich dagegen durfte schon einige seiner Freunde kennenlernen.
Anfangs wirkte er total selbstbewusst, willensstark, wortgewandt, aufmerksam und strahlte eine bemerkenswerte Ruhe aus. Ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass er solche tiefliegenden starken Selbstzweifel hat und ich fühle mich schrecklich dabei, wenn ich ihn nicht überzeugen kann, dass ich ihn wirklich toll finde und ich eventuell sogar in gewisser Weise dazu beitrage. Vielleicht war er anfangs nicht ganz ehrlich, allerdings möchte sich bestimmt jeder in seiner bestmöglichen Version präsentieren... und es dauert eine Weile, bis man sich auf emotionaler Ebene nah genug kommt, um auch Schwäche zeigen zu können. Mir ist auch bewusst, dass es für ihn eine wirklich schwere Zeit ist und er sich überfordert fühlt - selbst als Außenstehende kann ich es nachempfinden. Ich mache mir allerdings Sorgen, dass unsere Beziehung eine weitere Last für ihn darstellen könnte.
Wie gehe ich am besten mit der Situation um? Seine Selbstzweifel im Bezug auf mich einfach abzutun, wäre respektlos - ich will allerdings auch nicht zu viel Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und ihn damit in seiner Unsicherheit bestärken. Er ist mir sehr wichtig und auch wenn es für manche Menschen zu früh scheint, kenne ich mich selbst gut genug, um ehrlich zu sagen, dass ich diesen Mann liebe und ich ihn keinesfalls verletzen möchte.
Falls ihr Ratschläge oder Ideen habt oder vielleicht von ähnlichen Situationen berichten könnt, wäre dies mir eine große Hilfe.