Kurz nach Kriegsbeginn kamen bei uns damals auf dem Bahnhof viele Flüchtlinge aus der Ukraine an. Sie wurden hier von der Bundespolizei erstregistriert, bevor sie nach Leipzig weiterfahren konnten. Auf dem Bahnhof wurden diese Geflüchteten vor allem von der Bahnhofsmission betreut aber auch vom DRK und der DB-Sicherheit. Über 2 Wochen durfte ich dort bei der Mission mithelfen und hatte erschütternde Erlebnisse in dieser Zeit.
Jeden Abend hatten wir ca 200 Geflüchtete, alles Ukrainer, vor allem aus der Gegend um Lwiw. Etwa 30 % Kinder im Vorschulalter, 20 % Schulkinder bis etwa 16 Jahre, der Rest Frauen.
Und gleich am ersten Abend ein Mann, vielleicht Mitte 60, wie aus einer anderen Zeit. Noch in Gummistiefeln, eine alte Stoffhose und Filzjoppe, auf dem Kopf eine verschlissene Tschapka, als wäre er mit seiner Frau direkt vom Acker geflüchtet. Sein Gesicht aschfahl, mit einem versteinerten Blick starrte er vor sich hin. Nur wenn seine Frau ihn ansprach, sah man, wie viel Liebe in ihm steckte. Eine kleine Familie wie aus einer anderen Welt, die vermutlich ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet hat und nun in einem fremden Land vor dem Nichts steht!
Ein paar Schritte abseits ein Mitarbeiter von der DB Sicherheit, mit Tränen in den Augen. Leise sagte er zu mir: "So kam ich vor 5 Jahren auch in Deutschland an. Ich bin aus Homs. Auch bei uns bombten die Russen!"
Meistens war es absolut still! Nicht das übliche Gemurmel, das Kinderlachen, welches man bei so vielen Kindern erwarten müsste! Nein. Es ist absolute Stille in dieser Bahnhofshalle hier in der Oberlausitz.
Ein paar zusätzliche Stühle in der Mitte dieser Bahnhofshalle, ein paar gespendete Plüschtiere warten darauf, von Kindern geknuddelt zu werden.
Die Halle füllte sich Tag für Tag sich mehr, auch der kleine Warteraum an der Seite. Tische, ein paar Stühle drumherum, in einer Ecke des Raumes ein provisorisch hergerichteter Wickeltisch, auf dem ein etwa einjähriger Junge tief und fest schlief. Behütet von seiner Mutter, in ihren Armen schlief ihr zweiter Sohn. Ihr Großer saß am Tisch und malte.
Er malte Bilder, die ein sechsjähriger Junge nicht malen sollte! Explodierende Bomben und Raketen! Und eine Eisenbahn. Am Rand des Bildes. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtete. Und tippt mit seinem kleinen Finger neben das Blatt Papier. "є мир" (je myr) sagt er leise zu mir. "Dort ist Frieden."
Ich hocke mich zu ihm, antworte leise, um seine Brüder nicht zu wecken: "Так. Тут мир." (Ja, hier ist Frieden!).
Ich streichelte ihm sanft über den Kopf und verließ diesen Raum wieder. Er sollte meine Tränen nicht sehen.
Dies sind nur zwei Episoden meiner Zeit bei der Mission. Solche Szenen gab es fast täglich, zuviel, um alles aufzuschreiben. Und ja, diese Tage haben mein Leben verändert. Ich denke viel mehr über das Leben nach, denn ich hatte es vorm Gesicht, wie schnell sich dieses Leben gravierend ändern bzw. auch enden kann!