Hallo zusammen,
ich wollte schon länger mal einen Beitrag posten, in dem ich erzähle, wie ich aus meiner Essstörung rausgekommen bin, wie ich es geschafft habe, zuzunehmen und mich jetzt viel wohler fühle! Ich hoffe, der oder die ein oder andere kann damit möglicherweise etwas für sich gewinnen...
Ich bin 24 Jahre alt, meine jetzigen Maße sind 170 cm, 53 kg. Im Jahr 2016 wog ich noch 65 kg und wollte etwas Gewicht verlieren. Mein Ziel war es, unter 60 kg zu kommen. Zunächst achtete ich bewusster auf mein Essen und machte etwas mehr Sport (vor allem joggen) - was man halt so macht. Ich habe schnell gemerkt, dass ich ein tatsächlich abgenommen hatte, aber da ich keine Waage zu Hause hatte, war mir nicht klar, wie viel es am Ende war! Als ich über Weihnachten 2016 nach Hause fuhr, und meine Eltern meinten, wie stark ich abgenommen hatte, sah ich: in 6 Monaten hatte ich 10 kg verloren. Mit dem neuen Gewicht von 55 kg fühlte ich mich super wohl - und alle sagten mir, dass es gut sei, dass ich es aber auch dabei belassen und nicht noch weiter abnehmen sollte! Doch da war es schon irgendwie zu spät...
Ich habe mich an der Idee, so wunderbar abnehmen und Gewicht verlieren zu können, sehr erfreut - die Reaktionen von meinem Umfeld taten gut, ich fühlte mich wohl - und ich geriet in einen Strudel, aus dem ich lange nicht rauskam. Ich wollte sehen, wie weit ich kommen, wie sehr ich mich pushen und disziplinieren, was mein Körper "leisten" konnte! Ich kaufte mir eine Körper- und eine Küchenwaage, erstellte eine Liste mit Kalorienangaben für Lebensmittel, sortierte diese nach Kategorien, wie Obst, Brot, Gemüse, Milchprodukte, etc. und wog von nun an jedes einzelne Lebensmittel vor dem Essen ab. Ich schrieb bis ins letzte Detail auf, was ich wann aß, führte ein Tagebuch und berechnete Kalorien bis auf Nachkommastellen. Ich wog wirklich alles ab: Zwiebeln, Tomaten, Haferflocken, Milch, Salatblätter (wollte ich z.B. 50 g Rucola in meinen Salat tun, habe ich eben ein Blatt wieder aus der Schüssel rausgenommen, wenn die Waage 51 g angezeigt hat!)... Ich trank Kaffee nur noch schwarz, obwohl ich das eigentlich gar nicht mag - es war wirklich furchtbar! Ich sank so tief in die Essstörung, dass ich es fast vollständig vermied, auswärts zu essen. Ich erfand Ausreden, warum ich nicht mit in die Mensa gehen konnte, weshalb ich beim Grillen mit Freunden nichts essen "wollte", erfand Krankheiten, ging abends weniger aus, weil Alkohol auch richtig viele Kalorien hat...! Da ich aber eigentlich ein sehr sozialer Mensch bin, und wirklich sehr gerne in Kneipen und Clubs gehe, erlaubte ich mir einen einzigen Tag in der Woche als Cheat Day, der dann alle Rahmen sprengte. An solchen Tagen hatte ich die größten Fressattacken - und die Leute haben sich wirklich gewundert! Dadurch ging es mir immer am nächsten Tag sehr schlecht - zum normalen Kater kam Überlkeit durch die Fressattacken und vor allem das schlechte Gewissen dazu... Um diese massiven Cheat Days auszugleichen, aß ich an den restlichen Tagen der Woche umso weniger, damit ich eine Wochenbilanz von ca. 1000-1300 Kalorien erzielen konnte. Das bedeutet, dass es Tage gab, an denen ich 800 kalorien zu mir nahm, trotzdem Sport machte, und mich teilweise auch bewusst übergab! Zusätzlich entwickelte ich einen Stehdrang, was bedeutet, dass ich mich nicht setzen wollte, und eben alles im Stehen machte - weil das mehr Kalorien verbrennt. Meine Bachelorarbeit habe ich vollständig stehend geschrieben - mit dem Laptop auf dem Bügelbrett. Ich lief auch überall hin, außer wenn ich wirklich die Bahn nehmen musste, aber dann setzte ich mich auch dort nicht. Ich nahm so stark ab, dass ich im Winter 2017 45 kg wog, man überall meine Knochen sah, meine Wirbelsäule, meine Rippen - ich fand das wunderschön, aber die Menschen um mich herum fanden es schrecklich. Mir war auch ständig kalt, ich hatte immer blaue Finger und Zehen, war dauernd müde und erschöpft...Ich habe sehr lange gebraucht, um einzusehen, dass ich etwas ändern musste!!
Die Einsicht kam, als meine Hausärztin mir sagte, dass Untergewicht unter anderem ein Risiko für Fruchtbarkeit bedeutet. Da ich unbedingt Mama werden möchte, war das eine ganz schlimme Nachricht. Die Ärztin sagte mir, ich müsse auf jeden Fall über 50 kg wiegen, damit ich erstens nicht in eine Klinik müsse und zweitens dieses Risiko reduziere. Die Zahl 50 war gruselig für mich. 47 fand ich schon wirklich doof, 48 und 49 standen in meinen Augen schon für "fett sein"... Ich war halt so dünn, dass wenn ich etwas mehr aß, wenn ich z.B. am Wochenende mal zu Hause war, und meine Eltern kontrollieren konnten, was ich aß, man gleich am Bauch die Wölbung sah - klar, wo soll das Essen denn sonst hin?! Ich hatte so panische Angst, dass ich "unförmig" würde, dass ich ein Zunehmen ganz schrecklich fand! Doch der Wunsch, Mama zu werden war so stark, dass ich mich zwang! Ich flehte meinen Freund an, mich nicht zu verlassen, wenn ich zunehmen würde (was absoluter Quatsch war, weil er die erste Person war, die mich ermutigt hat, zuzunehmen), ging zu zwei Sitzungen in eine Beratungsstelle und schaffte es, die 50 kg Grenze zu überwinden. Ich merkte, dass sich nicht alles nur am Bauch angesiedelt hatte, sondern das Gewicht sich verteilt hat. Meine Oberschenkel sahen förmiger aus, mein Gesicht, meine Arme.. Ich bekam auch positives Feedback. Einmal meinte eine Freundin zu mir, ich sähe viel "vitaler" aus - dieses Wort hat mir sehr gefallen...
Diese Gewichtszunahme ist jetzt etwa ein halbes Jahr her, und inzwischen wiege ich 53 kg. Vor ein paar Wochen merkte ich zum ersten Mal, dass sich meine Oberschenkel wieder berührt haben, wenn ich im Bett auf der Seite lag. Das war schon komisch, weil mir dieser Gap immer sehr gefallen hat.. Ich schreibe zwar immer noch auf, was ich wann esse, und das wird auch noch dauern, bis dieser Tick weg ist. Aber meine Grenze ist nicht mehr 1000 Kalorien, sondern mindestens 1800. Wenn ich an erinem Tag Sport mache, dann 2500. Ich kann wieder mit Freunden ausgehen, ohne das schlechte Gewissen am nächsten Tag, ich kann das Leben wieder mehr genießen! Ich bin zum Glück immer noch in der Lage, Kinder zu bekommen - was ich mir nicht hätte verzeihen können, wenn ich mir das versaut hätte, und ich muss mich nicht mehr ständig erklären, weil ich nicht mehr in den Augen meiner Mitmenschen "krank" bin! Das tut wirklich gut...
Das war jetzt ein sehr langer Eintrag... Wenn ihr trotzdem noch Fragen habt, dann fragt gerne!! Ich würde mich nicht als "Ernährungsberaterin" sehen, aber ich habe wirklich viel gelernt in den letzten Jahren...
Euch allen wünsche ich alles Gute!
LG